Das Staatstheater Darmstadt zeigt Michael Frayns Komödie „Der nackte Wahnsinn“.
Kann man das Chaos kontrollieren? Eine Linie in eine Kette von Katastrophen und Pannen bringen? – Im richtigen Leben wohl kaum, doch im Theater geht das durchaus, denn hier herrscht offensichtlich sowieso stets der Ausnahmezustand. Zumindest lässt Michael Frayns Stück das vermuten. Die 1982 entstandene Komödie ist ein klassischer „Insider“-Blick auf die Innenwelt des Theaters und vor allem seiner Protagonisten. Dabei hat Frayn von vornherein auf tiefgehende oder gar existenzielle Problemanalysen verzichtet und gibt dem Slapstick in all seinen Erscheinungsformen den Vorzug. Hier können sich Situationskomiker aller Couleur austoben, und man sollte sich auf keinen Fall die alte Theaterfrage stellen, was denn der Autor uns damit sagen wolle. Interpretation ist hier fehl am Platze, da hier halt „der nackte Wahnsinn“ herrscht: Um Missverständnissen vorzubeugen: Der Titel des englischen Originals lautet „Noises Off“, und wie es zu dem mit gewissen Assoziationen beladenen deutschen Titel kam, bleibt wohl das Geheimnis der Übersetzerin. Regisseurin Caroline Stolz hat ihn jedoch im übertragenen Sinne – Schwerpunkt auf „Wahnsinn“ – als Herausforderung verstanden und setzt diesen Wahnsinn mit viel Tempo in das Bühnengeschehen um.
Eine Handlung existiert auch, und sie ist natürlich hochgradig selbstreferentiell. Das Bühnenbild von Lorena Diaz Stephens zeigt eine Wohnung mit Sofa, erhöhter Galerie und einer Reihe von Türen, wie es sich für eine Boulevard-Komödie gehört. Denn so beginnt das Stück. Als sich die Hausdame in der ersten Szene offensichtlich etwas verheddert, greift der Regisseur (Christian Klischat) aus dem „Off“ des Zuschauerraumes mit scharfer Stimme ein. Ein Telefon und ein Teller Sardinen entwickeln sich bereits in dieser Szene zum „running gag“ und bleiben dem Publikum in dieser Form bis zum Schluss erhalten. Man befindet sich offensichtlich in der Generalprobe für eine Tournee, die Premiere ist für den nächsten Tag angesetzt, und nichts funktioniert. Die Darstellerin der älteren Hausdame (Regine Vergeen) ist bereits ein wenig neben der Spur und bringt den Regisseur an den Rand des Nervenzusammenbruchs. Doch sie ist nicht der einzige Problemherd. Die junge Brooke (Katharina Hintzen) ist so bl… wie blond und erfüllt das Blondinenklischee nach allen Regeln der Kunst; ihr forscher Liebhaber Garry (Wolfgang Böhm), der das Haus als Immobilienmakler verwaltet und es wegen der Abwesenheit der Besitzer für ein Schäferstündchen nutzen will, kommt kräftig in die Bredouille, als er erst die Haushälterin und dann auch noch die Besitzer antrifft. Den unvermutet samt Ehefrau einfallenden Hausbesitzer spielt der überaus empfindsame und ein wenig begriffsstutzige Frederick (Hubert Schlemmer), der durchaus auf die Idee kommen kann, im höchsten Probenstress der letzten Stunden eine Grundsatzdiskussion über dramaturgische Finessen anzuregen. Seine Frau (Karin Klein) muss stets ein Auge auf ihn haben, vor allem hinsichtlich der anderen Frauen im Ensemble. Den Einbrecher spielt der alte Selsdon (Ulrich Cyran), dem man die Rolle aus sozialen Gründen gegeben hat und vor dem man jeglichen Alkohol mit viel Raffinesse verstecken muss – natürlich vergeblich. Dann ist da noch eine junge Regieassistentin (Katharina Susewind), die anscheinend unter Liebeskummer leidet, der Inspizient (Christian Bayer), der entweder zum falschen Zeitpunkt hämmert und delikate Aufträge erledigen oder plötzlich einen Schauspieler vertreten muss.
Es geht also weniger um die Handlung des Stücks im Stück sondern vielmehr um die Unmöglichkeit einer geordneten Zusammenarbeit im Ensemble: Empfindlichkeiten, Eitelkeit, Eifersucht und Missgunst beherrschen das Feld, und das ergibt eine wunderbare Grundlage für eine deftige Slapstick-Komödie. Schon die Generalprobe bietet genug groteske Situationen und Pannen, und man wundert sich als Zuschauer nicht, dass der Regisseur schreiend über die Bühne läuft, sondern mehr darüber, dass überhaupt noch etwas vorangeht bei dieser Generalprobe. Wenn dann die Generalprobe mit Müh´und Not und mehr schlecht als recht über die Bretter gebracht worden ist, wechselt Frayn die Perspektive und zeigt dieselbe Probe noch einmal vom „Backstage-Bereich“. Hier legen die Beteiligten jetzt alle Hemmungen ab und lassen ihren persönlichen Animositäten, Süchten und Schwächen freien Lauf. Beziehungsprobleme werden hier zwischen zwei Szenen handgreiflich ausgetragen, und die Darsteller flüchten bisweilen geradezu auf die Bühne. Klar, dass so mancher in dem Tohuwabohu hinter der Bühne hin und wieder seinen Einsatz vergisst und damit seine eigene Improvisationsgabe und die seiner Mitspieler auf eine harte Probe stellt.
Wenn man zur Pause diese beiden Seiten der Probenarbeit gesehen hat und sich bereits gut amüsiert hat, fragt man sich, wie Frayn das im zweiten Teil noch steigern will. Doch auch dazu hat er sich etwas ausgedacht. Der zweite Teil zeigt die 98. Aufführung dieser Tournee und ein so abgewracktes Bühnenbild wie Ensemble. Alles hängt mehr oder minder in Fetzen, und die Darsteller kümmern sich auf der Bühne einen Dreck um logische Abläufe oder Stimmigkeit. Die Texte werden improvisiert, mit falschen oder nicht vorhandenen Requisiten vorgetragen, man platzt zu früh oder zu spät in die Szenen und trägt die persönlichen Fehden auch noch auf der Bühne aus, bis hin zu Fußtritten und -angeln.
Caroline Stolz war sich offensichtlich klar darüber, dass es in diesem Stück nicht um Interpretationsvarianten geht, sondern dass nur Tempo und Drastik zählen. Und so drückt sie richtig auf die Tube. Mit zunehmender Spielzeit steigert sich das Tempo, und die Slapstick-Einlagen nehmen akrobatische Züge an. Der Höhepunkt ist Garry Lejeunes – alias Wolfgang Böhm – Treppensturz samt dreier Überschläge und mehrerer Kopfnüsse, der in eine fiktive Ohnmacht mündet. Als das Publikum begeistert applaudiert und nach Wiederholung ruft, hebt er den Kopf und zeigt den berühmten Vogel! Doch dafür rennt er noch einmal gegen die Lampe und fällt in den Fernseher. Man sieht, diese Inszenierung lässt nichts aus. Doch es geht nicht nur um physischen Slapstick. Natürlich sind die darstellerischen und textlichen Pannen die eigentlichen Lacher, und diese kommen in immer dichterer Folgen. Man kann nur staunen vor so viel Präzision, denn eben dieses Chaos will genauestens geplant und höchst diszipliniert gespielt sein, um plötzliche Löcher und Längen zu vermeiden. Es ist für das Ensemble des Staatstheaters eine wesentlich anspruchsvoller, die Pannen einer Aufführung mit dem entsprechenden Lachwert zu präsentieren, als eine in sich schlüssige Handlung darzustellen. Pannen sind viel schwieriger glaubwürdig und dabei witzig darzustellen als gelungenes Theater. Und weil das Ensemble dies schafft, schaffen sie „gelungenes Theater“, sofern man dieses nicht zwangsweise mit Ernst und tieferer Bedeutung assoziiert.
Das Ensemble hat offensichtlich Spaß an dem Katastrophentheater und spielt die Rollen genüsslich bis an den Rand der Knallcharge durch. Das Schöne daran ist, dass hier ausnahmsweise auch das Klischee erlaubt ist, sofern es gnadenlos überspitzt wird. Und eben dies tun die Schauspieler mit geradezu masochistischer Spielfreude – denn schließlich geht es ja um ihren Beruf und ihre Berufung. Humor ist halt, wenn man trotzdem lacht – über die eigenen Fehler und Schwächen.
Man kann hier mit Fug und Recht sagen: Mach Dir ein paar schöne Stunden, geh´ins Theater. Lachen statt Nachdenken – das geht durchaus von Zeit zu Zeit.
Frank Raudszus
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