Roman über die letzten Lebensmonate des Schriftstellers Stefan Zweig.
Stefan Zweig kam im Jahr 1881 als Sohn wohlhabender und gebildeter jüdischer Eltern im Wien der k.u.k-Zeit zur Welt und verbrachte dort eine Jugend auf hohem wirtschaftlichen und intellektuellen Niveau. Den ersten Weltkrieg überstand er dank einer Tätigkeit im Kriegsarchiv ohne Kampfhandlungen, die er aus seiner pazifistisch-humanistischen Geisteshaltung ablehnte. Bereits vor dem Jahr 1933 ahnte er das Gefährliche der in Deutschland zunehmend erstarkenden nationalsozialistischen Bewegung und emigrierte 1934 aufgrund persönlicher Attacken gegen seine jüdische Herkunft und pazifististische Grundhaltung nach England. Von dort floh er 1939 nach Amerika, da er eine Internierung als potentieller Feind befürchtete. Doch auch die US-Amerikaner flößten dem bis an den Rand einer Paranoia misstrauischen Zweig kein Vertrauen ein, da sie ihn mit allerlei bürokratischen Nachfragen verunsicherten. So wechselte er 1941 noch einmal den Zufluchtsort und landete in Brasilien, wo er zu besseren Zeiten umjubelt worden war.
Diese kurze Zusammenfassung der Lebensstationen ist für das Verständnis des Romans von Laurent Seksik wichtig, da sie die Geistesverfassung eines hochsensiblen Künstlers auf der permanenten Flucht vor echter oder vermeintlicher Verfolgung erklärt. Stefan Zweig hatte schon einige Male die politische Entwicklung in Europa gegen die Bagatellisierung vieler Künstlerkollegen richtig erkannt und ahnte auch im Jahr 1941, dass der Kelch noch lange nicht bis zur Neige geleert war. Berichte über Konzentrationslager, Deportationen und Massenexekutionen verwarf er nicht mit leichter Hand als Greuelpropaganda der Kriegsgegner sondern nahm sie bitter ernst.
Laurent Seksik lässt seinen Roman im September 1941 beginnen. Stefan Zweig ist mit seiner zweiten Frau Lotte in der brasilianischen Stadt Petrópolis gelandet und hat dort sogar ein annehmbares Quartier und eine Reihe von Freunden und Exilanten gefunden. Aus der Sicht der europäischen Verfolgten hatte er großes Glück gehabt und sah einer hoffnungsvollen Zukunft entgegen. Seksik zeigt jedoch mit seinem Roman nicht nur Zweigs bereits ziemlich angegriffene psychische Verfassung sondern auch die Gründe für den Freitod fünf Monate später. Zweig notiert jede Nachricht aus Europa wie ein äußerst fein eingestellter Seismograf, und die Nachrichten könnten schlimmer nicht sein. Hitler ist militärisch auf dem Vormarsch, und kein Land scheint sich ihm entgegenstellen zu können. Selbst das riesige Sowjetreich überrennen seine Truppen in diesen Monaten ohne nennenswerten Widerstand. Anhand dieser Randbedingungen kann man nachempfinden, dass er auch den Sprung des Dritten Reiches nach Südamerika für möglich, ja wahrscheinlich hält. Für ihn und seinesgleichen gibt es auf dieser Welt keine Sicherheit mehr, zumal er auch von versteckten Agenten der Nationalsozialisten gehört hat, die fern von Deutschland unliebsame weil berühmte Persönlichkeiten umbringen. Hitlers Truppen brauchen also gar nicht erst bis nach Petrópolis zu kommen, um ihn zu liquidieren.
Als seine Frau Lotte in der Zeitung von Amerikas Kriegseintritt liest, jubelt sie in naiver Vorfreude auf ein schnelles Ende des Albtraums buchstäblich auf. Weiß sie doch nicht, wie lange auch eine Großmacht wie die USA benötigt, um ein hochgerüstetes, fanatisches Land weit jenseits des Atlantiks militärisch zu besiegen. Ihre Enttäuschung über Zweigs fast emotionslose Reaktion ist zwar verständlich, doch verschweigt er ihr die Gründe: er hat gerade von der organisierten Deportation und Liquidation der europäischen Juden erfahren und ahnt, was der Welt und vor allem den Juden in den nächsten Jahren bevorsteht.
So reiht sich für Zweig eine Enttäuschung an die andere, während seine junge Frau überall noch das Positive, Zukunftsträchtige sehen will, und wenn nur zu dem Zwecke, ihren Mann innerlich wieder aufzurichten. Sie plant Besuche bei Bekannten, sie sorgt für Wohnlichkeit und hofft sogar auf ein Kind, Stefan Zweig jedoch versinkt immer tiefer in Depressionen, die in diesem Fall jedoch keine medizinische sondern handfeste politische Ursachen haben. Eine Schlüsselstelle des Romans bezieht sich auf Zweigs literarische Verarbeitung von Heinrich von Kleists Freitod, den er geradezu hymnisch als eine befreiende Tat feiert. Als ein Freund ihn auf die Parallelen zwischen Kleists und seiner Situation – einschließlich der kranken Begleiterin – hinweist und Zweig dies nur halbherzig, ja fast geistig abwesend bagatellisiert, hört seine Frau diese Unterhaltung in Seksiks Roman mit und beginnt, sich innerlich auf ein ähnliches Schicksal einzurichten, obwohl sie alles andere als todessüchtig ist. Das auslösende Ereignis ist dann die Eroberung Singapurs durch die Japaner, mit der für Zweig die europäische Kultur und damit seine Zukunft endgültig am Ende ist. Wie er seine Frau zum gemeinsamen Freitod überredet bzw. sie überzeugt hat, lässt Seksik offen, denn das wäre wohl zuviel der Spekulation. Er geht sozusagen rückwärts von dem Bild der aneinandergeschmiegten Leichen aus und setzt ein großes Einverständnis voraus. Nur Lottes letzten einsamen Gang von der Stadt zurück in das Heim, mit tränenüberströmtem Gesicht und der irrationalen Hoffnung, jemand möge sie aufhalten, gönnt er seiner schriftstellerischen Phantasie.
Laurent Seksik gelingt es in diesem Roman, die bekannten Tatsachen nicht zu verdrehen oder eigenwillig zu deuten und dennoch eine Substanz über das Dokumentarische hinaus zu schaffen. Er konzentriert sich auf das Innenleben seiner Protagonisten Stefan und Lotte Zweig. Dabei hilft ihm natürlich Stefan Zweigs literarisches Werk sowie seine vielfältigen Aufsätze und Äußerungen zu politischen und gesellschaftlichen Fragen. Bei Lotte Zweig kann er weniger aus dem Vollen schöpfen, da Stefan Zweig sie erst während seines Londoner Exils kennenlernte und über sie keine umfassenden Zeugnisse – eigene oder Dritter – vorliegen. Seksik versetzt sich in die Rolle des Schriftstellers Stefan Zweig, der einst gefeiert, international herumgereicht und geehrt wurde und sich jetzt immer weiter entfernt von seiner ehemaligen Heimat verstecken muss. Ein Mensch, der auf die lebendige Kommunikation mit Zeitgenossen und dem kulturell-politischen Leben angewiesen ist, wird plötzlich systematisch davon abgeschnitten, mit wenig Hoffnung auf Besserung. Diese sich stetig verschlechternde tatsächliche und persönlich empfundene Situation lassen schließlich den Freitod als logische Konsequenz erscheinen. Seksik tut genau das, was Stefan Zweig in seinen großen Biografien – Fouché, Magellan, Marie Antoinette – getan hat: er portraitiert einen Menschen in einer existenziellen Situation und lässt ihn dabei in all seinen Facetten lebendig werden. Dabei gelingt es ihm – bewusst oder unbewusst – seinen Stil in gewisser Weise an den von Stefan Zweig anzulehnen: anschaulich, lebendig und reich an psychologischen Details.
Der Leser lebt und leidet mit diesen beiden einsamen Menschen im brasilianischen Exil, und wenn man nicht wüsste, wie dieses Exil geendet hat, so würde man während der Romanlektüre dem Paar ein glückliches Ende der Dauerflucht wünschen.
Das Buch „Vorgefühl der nahen Nacht“ ist im Blessing-Verlag unter der ISBN 978-3-89667-443-2 erschienen, umfasst 239 Seiten und kostet 18,95 €.
Frank Raudszus
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