Das SchauspielFrankfurt inszeniert Ferdinand von Schirachs „Terror“.
So einfach und schlagkräftig kann Theater sein: eine aktuelle Problemstellung, eine gezielte, konzentrierte Handlungsführung und Verzicht auf jegliche ideologische Gewichtung. Ferdinand von Schirach, von Hause aus Strafverteidiger, hat in diesem Theaterstück ein brisantes Problem auf die Bühne gebracht: darf man ein gekapertes Passagierflugzeug abschießen, um zu verhindern, dass es als Waffe gegen große Menschenansammlungen eingesetzt wird?
Den Hintergrund dieser Fragestellung bildet das Luftsicherheitsgesetz (LSG) aus dem Jahr 2005, das eben gerade diesen Fall vorab regeln sollte und den Abschuss erlaubte. Das Bundesverfassungsgericht (BVG) erklärte dieses Gesetz ein Jahr später für verfassungswidrig und hinterließ damit eine potentiell katastrophale Lücke. Denn bei Eintreten eines solchen Falles müssten die Behörden – im Falle einer sehr kurzen Vorwarnzeit – untätig zusehen, wie ein Flugzeug zum Beispiel in ein vollbesetztes Stadion hineingesteuert wird.
Gerade diesen Fall hat von Schirach in seinem Theaterstück aufgearbeitet. Terroristen entführen eine Maschine auf dem Flug von Berlin nach München und lassen kurz vor Erreichen des Ziels mitteilen, dass sie die ausverkaufte Münchner „Allianz-Arena“ als Ziel bestimmt haben, in der gerade ein Länderspiel stattfindet. Zwei Abfangjäger steigen auf. Als der verantwortliche Offizier von der Bodenstelle den Befehl erhält, auf keinen Fall zu schießen – siehe Urteil des BVG – wägt er die Folgen ab und schießt die Maschine auf eigene Verantwortung ab, wobei alle 164 Insassen sterben. Bei der Rückkehr wird er umgehend verhaftet und steht jetzt vor Gericht.
Eine Gerichtsverhandlung ist im Grunde genommen als Vorlage für ein Theaterstück fragwürdig, wenn sie nicht nach dem Prinzip „whodunnit“ der Kriminalfilme gestrickt ist. Hier geht es jedoch nicht um heldenhafte Verteidiger, die in letzter Sekunde den rettenden Beweis finden und den Angeklagten vor dem Galgen retten; hier sind die Fakten von vornherein klar, und es geht „lediglich“ um die juristische Aufarbeitung. Das könnte zum Gähnen langweilig sein, doch Regisseur Oliver Reese schafft es mit mehreren guten Einfällen und sehr guten Darstellern, das Stück derart lebendig und spannend auf die Bühne zu bringen, dass man zwischenzeitlich vergisst, im Theater zu sitzen.
Das Bühnenbild von Hansjörg Hartung rückt den Gerichtssaal ganz dicht an die Zuschauertribüne heran und trennt den restlichen Bühnenraum durch eine bühnenhohe Wand von der engen Reihe der Tische und Stühle für das Gerichtspersonal ab. Dadurch rückt die Inszenierung dem Publikum buchstäblich auf den Leib und nimmt ihm die Möglichkeit, das Geschehen als Fiktion auf einer entfernten Bühne zu betrachten. Weiterhin verzichtet Reese auf jegliches „Ambiente“ einer wie auch immer gearteten sozialen Umgebung. Tische, Stühle, Mikrofone, Menschen – das ist alles. Außerdem gelingt es ihm mit einem kleinen Geniestreich, das Publikum einzubinden. Dieser ewige Traum aller Theatermacher wird sehr oft nur in Form des Mitsingens oder peinlicher Interaktionen mit einzelnen Zuschauern realisiert und funktioniert fast nie. Oliver Reese will jedoch keine fröhliche Teilnahme, sondern fordert ernsthaftes Engagement. Da er nun schon mal so eng an die Zuschauer herangerückt ist, kann er sie auch gleich zu Schöffen machen. Vor der Vorstellung erhalten daher alle Besucher ein Abstimmungsgerät, mit dem sie am Ende für „schuldig“ oder „nicht schuldig“ plädieren können. Der Richter der Verhandlung (Martin Rentzsch) verkündet das Ergebnis der Abstimmung am Schluss als Urteil mit einer in sich konsistenten Begründung. Damit existieren für dieses Schauspiel zwei Versionen des Endes, wobei die jeweils nicht verkündete den Besuchern am Ausgang in Papierform übergeben wird. Die Zuschauer sind also zu einer ernsthaften Beschäftigung mit der Anklage und den jeweiligen Argumenten aufgefordert und können den Ausgang des Verfahrens – zumindest in dieser fiktionalen Umgebung – beeinflussen.
Die Inszenierung verzichtet auf jegliche plakativen Elemente und beschränkt sich auf die Darlegung und Widerlegung der einzelnen Argumente. Dabei stellt die Art des Problems sicher, dass es keine argumentatorische Schieflage „à priori“ gibt, d. h. beide Sichtweise begegnen sich von vornherein auf Augenhöhe. Der Angeklagte ist kein sturer Kommisskopf, gar mit rechtslastiger Ideologie, sondern ein verantwortungsvoller Offizier, der unter seiner Tat leidet, sie aber aus Überzeugung jederzeit wiederholen würde. Der Vorsitzende ist weder ein Paragraphenreiter noch menschelt er zwecks Heiterkeit oder Zustimmung der Zuschauer. Er ist einfach ein umsichtiger, erfahrener Richter. Die Staatsanwältin ist keine überschäumende, womöglich pazifistische Kämpferin für die Prinzipien des Rechtsstaates, stellt aber die verfassungsrechtlichen Prinzipien eloquent und mit guten Argumenten über jegliche persönliche, situationsgebundene Entscheidung. Der Verteidiger ist offensichtlich Idealist, redet sich langsam warm, läuft dann jedoch im Schlussplädoyer zu überzeugender emotionaler Form auf. Auch die beiden Zeugen – ein höherer Offizier und eine Nebenklägerin – Witwe eines umgekommenen Fluggastes – sind keine Archetypen oder gar wohlfeile Klischee-Figuren, sondern in ihrer Rolle überzeugende Figuren.
Wie zu erwarten, prallen in der Verhandlung die beiden grundsätzlichen Auffassungen aufeinander: darf man Menschenleben gegeneinander aufwiegen – etwa 164 gegen 70.000? Wenn ja, bei welcher Größenordnung greift dieses Aufwiegen? Darf ein Einzelner sein persönliches Gewissen über die Verfassung stellen, das höchste Gesetz, das sich die Gemeinschaft selbst gegeben hat? Fragen, die keine einfachen Antworten erlauben, und die immer von den beiden Antipoden gegensätzlich – und jeweils überzeugend – beantwortet werden. Ferdinand von Schirach verfällt keinen Augenblick lang der Gefahr, eine der beiden Seiten zu denunzieren, und Oliver Reeses Inszenierung folgt ihm dabei in jeder Hinsicht. Der Zuschauer, der bereits zu Beginn eine Meinung zu dem Fall zu haben glaubt, sieht sich immer wieder schlagenden Argumenten der Gegenseite ausgesetzt, die er nicht einfach zur Seite wischen oder gar lächerlich machen kann. Obwohl von Schirach bewusst auch schwache Argumente einbringen lässt, etwa dass man ja nicht wissen könne, ob die Passagiere nicht kurz davor gewesen wären, das Cockpit zu stürmen. Oder die Behauptung, man hätte 70.0000 Zuschauer binnen zwanzig Minuten evakuieren können. Schwach sind diese Argumente nicht vom Wortlaut her, sondern wegen der Umgebungsbedingungen wie Zeitdruck und Informationsdefiziten.
Ein wenig hat die Inszenierung jedoch die Startbedingungen beider Seiten verschoben, ob bewusst oder nicht, sei dahingestellt. So ist die Staatsanwältin zwar äußerst kompetent und eloquent, jedoch zeigt sie so gut wie keine Emotionen und entspricht ein wenig den einschlägigen Vorstellungen eines aggressiven Staatsanwalts, wie man ihn von vielen Filmen her kennt. Die Filmindustrie hat den Verteidiger zum Helden gekürt und den Staatsanwalt zum „Wadenbeißer“ degradiert. Eine Spur davon findet sich auch in dieser Inszenierung, zumal der Verteidiger als einziger mit kleinen menschlichen Schwächen ausgestattet ist. So muss ihn der Richter erst ermahnen, die Robe anzuziehen, die er dann aus seinem Rucksack zieht, und auch die Fahrradklammern an den Hosenbeinen hat er ganz vergessen. Das verleiht ihm sofort das sympathische Flair des gutherzigen Idealisten, als der er sich dann auch herausstellt. Doch kann man diese Rollenprofile auch als legitimen Versuch begreifen, den handelnden Personen etwas Alltagsleben einzuhauchen, wenn es sonst schon in dieser Verhandlung daran mangelt. Sehr glaubwürdig auch die junge Witwe (Constanze Becker), die eher verstört und verunsichert denn als Racheengel auftritt.
Die Darsteller überzeugen durchweg in ihren Rollen, und es lohnt sich, bei den Ausführungen einer Partei die Mimik der jeweiligen Gegenseite zu verfolgen, sei es das leichte Zucken der Mundwinkel der Staatsanwältin (Bettina Hoppe) oder der vor innerem Widerspruch in sich gekrümmte Körper des Anwalts. Besonders überzeugt hier jedoch Nico Holonics als Pilot Lars Koch, der über die gesamte Dauer der zweistündigen Aufführung ein Wechselbad der Gefühle durchläuft, die sich in der gequält kontrollierten Gestik und Mimik zeigen. Gerade die hervorragenden Leistungen der Darsteller lassen streckenweise vergessen, dass man sich im Theater befindet, und man spürt die Auswirkungen dieser Katastrophe persönlich und fast körperlich.
Frank Raudszus
Alle Fotos © Birgit Hupfeld
Text © Frank Raudszus
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