Joan Anton Rechi inszeniert in Darmstadt Rossinis „Der Barbier von Sevilla“.
Diese Oper zählt sicher nicht zu den gehaltvollsten und tiefgründigsten Werken des Musiktheaters, auch wenn sie immer noch sehr oft gespielt wird. Zu banal und zeitgebunden ist die Handlung: der ältere Arzt Dr. Bartolo will sein junges Mündel heiraten, doch Graf Almaviva ist ebenfalls scharf auf sie und auf jeden Fall in jeder Hinsicht eine bessere Partie. Trotz der Vorsichtsmaßnahmen des des alten Gockels gelingt es Almaviva mit Hilfe des gerissenen Friseurs Figaro am Ende, die junge Frau ins Ehebett zu führen.
Schon zu Rossinis Zeiten war diese bekannte Konstellation mit viel Witz aufgeladen, doch im Laufe zweier Jahrhunderte hat sich einerseits das Problem erledigt und andererseits die Zahl origineller Inszenierungsmöglichkeiten erschöpft. Dachte man! Bis Joan Anton Rechi sich des Stoffs annahm und ihm völlig neue Aspekte abgewann. Schon Philipp Kochheim hatte diese Oper vor über zehn Jahren in Darmstadt mit drastischem Humor inszeniert, doch Rechi dreht in seiner Version noch einige humoristische Volten mehr.
Wenn sich der Vorhang nach der von Will Humburg eher zugespitzt den nur „schmissig“ interpretierten Ouvertüre hebt, steht dort eine junge blonde Dame mit Mikrofon und fernsehgerechter Aufmachung vor einer abstrakten Hausfassade und begrüßt das Publikum mit einem starken italienischen Akzent, wie man ihn von Italien-Parodien kennt. Mit der typisch aufgedrehten Moderatoren-Munterkeit einer auf Quoten schielenden Fernsehserie weist sie das Publikum über die Höhepunkte der gerade im Dreh befindlichen Serie „Der Barbier von Sevilla“ auf. Und dann geht es auch schon los.
Die herkömmlich mit Almavivas Ständchen vor Rosinas Fenster beginnende erste Szene wird schnell angereichert durch bühnenfremde Elemente. Links und rechts der Bühne fahren Kameramänner mit ihren Geräten auf, und ein Regisseur mit Megaphon rutscht unruhig auf seinem Stuhl herum, die Szene betrachtend. Dort schmachtet Almaviva (Juan Sancho) in die Kamera – nicht mehr zu Rosinas Fenster hinauf! -, und ein niesendes Mitglied der ihn begleitenden Musikertruppe zerstört die ganze Stimmung. Schon hier kommt ein besonderes Element dieser Inszenierung zum Tragen. Rechi zieht Rossinis Texte und Musik über zwei Ebenen: die der „Barbier“-Handlung und die des Drehs für die Fernsehserie. Dabei achtet er genau darauf, dass eventuelle emotionale Ausbrüche – hier: der Ärger über die nicht erscheinende Rosina – auch in der anderen Ebene passen – hier: der Ärger über den niesenden Musiker. Musik und Text laufen dann einfach weiter, während die Szene nahtlos in die Regie-Ebene überwechselt. Da pudern die Kosmetikerinnen den Heldentenor während seines Gesangs, und der Regisseur läuft mitten durchs Bild, sich die Haare raufend. Dieses Element der Ebenenverschiebung durchzieht die ganze Inszenierung und sorgt für viele überraschende Pointen.
Wenn Figaro die Szene betritt, scheut sich Rechi auch nicht vor Klischees. David Pichlmaier verleiht dem Friseur genau die erotische Ausrichtung, die dieser Berufsgattung seit langem nachgesagt wird, und das mit allen Zutaten wie eingeknickter Hüfte und theatralisch manierierter Handhaltung. Und während sich auf der Bühne der „Barbier“-Dreharbeiten das bekannte Spielchen zwischen Herr (Almaviva) und Diener (Figaro) abspielt, läuft auf der anderen Ebene das Spiel der Eitelkeiten, bei dem sich beide Sänger bemühen, möglichst vorteilhaft ins Fernsehbild zu kommen, und sich dabei gegenseitig auch gerne die Show stehlen. Was Wunder, dass die beiden sich während einer kurzen Drehpause am Rande der Bühne zoffen und beinahe tätlich werden. Der erste Höhepunkt naht denn auch, wenn die Szene zu Ende geht und das gesamte Team auf den großen Sänger des Grafen Almaviva zustürzen, um ein „Selfie“ mit ihm aufzunehmen. Trotz des offensichtlichen Balsams für die Seele des Stars kommt er in diesem Gedränge fast unter die Räder.
In diesem Stil geht es im ganzen ersten Akt – im Programmheft als Folgen 1 bis 4 der Staffel 1 ausgewiesen – weiter. Rosina (Amira Elmadfa) ist einerseits ein störrisches junges Mädchen, dass sich von seinem Vormund weder einsperren noch gar heiraten lassen will, andererseits eine divenhafte Schauspielerin, die an allem etwas auszusetzen hat und sich ständig mit ihren Kollegen anlegt. Das gibt natürlich mehr als reichlich Gelegenheit, den Kontext zu wechseln und Rossinis Texte in die Regieumgebung zu übertragen. Den Wechsel dieser Ebenen kündigt meist der Regisseur durch ein „Cut“ respektive ein „Action“ an. Das gerade bei diesen Wechseln sich beliebig viele Anlässe für Slapstick-Einlagen aller Art anbieten, die gnadenlos genutzt werden, versteht sich von selbst. Da verlässt Rosina alias NN auch mal beleidigt den Drehort und muss mühsam mit guten Worten wieder eingefangen werden. Und während etwa der Figaro-Darsteller sie noch singend beruhigt, sind sie schon wieder im Rossini-Kontext. Das geht bisweilen geradezu blitzartig.
Doktor Bartolo ist mit Jiri Sulzenko geschickt besetzt: bereits älter, etwas rundlich und mit gelichtetem Haupthaar, ist er genau der Typ Mann, der eine Siebzehnjährige überhaupt nicht interessiert. Dazu passt auch Vadim Kravets als Don Basilio, der bereits mit einer Schapsflasche und einigen Promille im Blut zum Dreh kommt und während des Drehs einen minutenlangen Kampf mit verschiedenen Mitgliedern des Drehteams um den Flachmann ausficht, das Ganze natürlich singend. Als „running gag“ halten sich alle wegen seiner fürchterlichen Alkoholfahne die Nase zu, wenn sie sich ihm ungewollt nähern.
Diese fünf Darsteller ziehen Rossinis Vorlage nach allen Regeln der sängerischen und humoristischen Kunst durch den Kakao und drehen ihn durch den Fleischwolf des Humors – vom Wortwitz bis zum Kalauer, von mehr oder minder anmutigen Bewegungen bis hin zu Schlägereien. In der letzten Folge dieser Staffel artet der Streit zwischen Almaviva und Dr. Bartolo zu einer Massenschlägerei mit Hilfe des Chors aus, die in einem tödlichen Unfall endet. Wie die Leiche vor der herbeigeeilten Polizei versteckt und schließlich entsorgt wird, ist makabrer britischer Humor vom Feinsten – obwohl Rechi Spanier ist! – und daher vielleicht nicht jedermanns Sache, obwohl der Witz mehr im Drumherum als im Tod selbst liegt. In dieser letzten Folge der ersten Staffel kommt auch noch der Chor noch einmal zu einem Großeinsatz, wenn auch nur zum Teil sängerisch.
Doch Rechi entwickelt seine Ideen nicht nur als große Pointe, sondern auch im Kleinen. Für allerlei Handreichungen am Drehort gibt es die „blue men“, die man später leichter ausblenden kann. So ein „blue man“ im blauen Ganzkörperanzug versucht vor einer Szene, ein für die Handlung erforderliches Telefon an der Wand zu befestigen, findet aber dank organisatorischer Schlamperei keinen Haken. Also spielt er selbst den Haken. Diese kleine Szene läuft natürlich neben der weiter laufenden Handlung auf der Bühne ab. Wer genau hinschaut, findet viel dieser kleinen Nebenhandlungen, die den ganz normalen Wahnsinn bei einem Filmdreh widerspiegeln.
Rechi hat jedoch richtig erkannt, dass man diesen Ansatz der doppelten Fiktion von Filmset und Oper wegen der Gefahr des Totreitens nicht bis zum Ende durchhalten kann. So wartet er nach der Pause mit einer neuen Idee auf: ein überdimensionierter Fernsehempfänger der späten fünfziger Jahre füllt jetzt die Bühne aus, was bedeutet, dass die Serie zu Ende gedreht wurde und jetzt im Fernsehen erscheint. Die lange Szene in Rosinas Schlafgemach läuft jetzt sozusagen im TV, und wie in einem kleinen Kammerspiel laufen jetzt die Verwirr- und Täuschungsspiele zwischen Figaro, Almaviva einerseits und Bartolo sowie Don Basilio andererseits ab. Die Szene weist zwar durchaus einigen Witz auf, aber durch den Wegfall der Dreh-Ebene und die Beschränkung auf die reine „Barbier“-Handlung und den kleinen Raum drohen am Ende Längen. Diese Gefahr bannt Rechi mit einem plötzlichen Szenewechsel aus der TV-Welt hinaus und leitet damit den finalen „Showdown“ ein. Dieser beginnt mit einer grotesken „Geheim-Hochzeit“ einschließlich der üblichen Haushaltsgegenstände als Geschenke und endet nach einer „Werbepause“ (Zwischenspiel) im Stil einer Talkshow mit nerviger Interviewerin und – nach der finalen Auseinandersetzung mit Dr. Bartolo – in einer überspitzten TV-Hochzeit ganz in Weiß und mit allem Glamour, den man im Fernsehen gerne um die Promis entfacht. Am Ende verwickelt sich die ganze Gesellschaft noch schwer in den Randerscheinungen der Kommunikationstechnik und muss mit einem klaren Schnitt befreit werden.
Es gibt in dieser Inszenierung kaum eine Szene ohne vorder- oder hintergründigen Witz. Die Pointen folgen zu schnell – und teilweise sogar gleichzeitig -, als dass man alle bei einer Aufführung erfassen könnte. Die Darsteller sind bestens aufgelegt und genießen ihre Rollen offensichtlich. Im Mittelpunkt steht dabei zweifellos David Pichlmaier als schwuler Figaro, der dieser Figur nicht nur die einschlägigen Eigenschaften verleiht, sondern auch sonst mit viel Witz und schauspielerischem Können die Bühne beherrscht. Juan Sancho steht ihm darin nicht viel nach. Obwohl seine Rolle – Almaviva – nicht ganz so dankbar ist, holt er durch die Zwischenebene des Fernsehdrehs viel witzige Momente aus ihr heraus. Ähnliches gilt für Amira Elmadfa, die im kurzen Mädchenröckchen mal das spätpubertäre Gör und mal die eitle Diva herauskehrt. Auch Jiri Sulzenko und Vadim Kravets als Dr. Bartolo und Don Basilio profitieren von Rechis Idee der mehrfachen Ebenen und können ihren je eigenen Witz einbringen. Das alle stimmlich auf der Höhe sind, versteht sich fast von selbst, und Juan Sancho zeigt das zum Beispiel bei den schwierigen Koloraturen und vibrierenden Tonfolgen. David Pichlmaier und Amira Elmadfa legen eine herrliche Szene hin, in der er ihr – als Figaro – die Beinhaare mit den Klebebändern entfernt und das Abreißen genau mit den hohen Tönen synchronisiert.
Am Dirigentenpult sorgt Will Humburg dafür, das Rossinis Musik nicht zu operettenhaft, d.h. vordergründig „schmissig“ daherkam. Bewusst achtet er auf klangliche Sparsamkeit und passt die Musik minutiös an die Bühnenhandlung an. Das ist umso herausfordernder, als viele Szenen durch die Einfügung der Filmset-Ebene aus dramaturgisch-humoristischen Gründen musikalisch aufgebrochen oder wiederholt werden müssen. Da hat der Darsteller des Dr. Bartolo plötzlich den Text vergessen, oder der volltrunkene Basilio-Sänger bringt den ganzen Filmset auch musikalisch durcheinander, so dass die Szene auseinanderfliegt und wiederholt werden muss. Das scheinbare Chaos ist jedoch szenisch und vor allem musikalisch genauestens geplant und inszeniert, und Will Humburg hat den musikalischen Ablauf souverän im Griff. Keinen Augenblick laufen Musik und Bühne auseinander.
Doch nicht alle Besucher goutierten diese Inszenierung. „Oper = Kultur = Bildung = Ernsthaftigkeit“ scheint die Devise mancher Opernfreunde zu lauten, auch für die „opera buffa“. Der Humor hat sich in Grenzen zu halten und darf auf keinen Fall anarchische Züge annehmen. Doch der wahre Humor ist anarchisch und muss es sein. Er hinterfragt damit alle scheinbar festgefügten Werte und gibt das vermeintlich „Gute und Wahre“ bis zu einem gewissen Grad der Lächerlichkeit preis. Dieses Gefühl der totalen Relativität ist für manche offensichtlich unerträglich. Doch Rechi hätte bestimmt auch dafür eine Antwort parat.
Die überwiegende Mehrheit der Premierenbesucher war jedoch begeistert und spendete allen Beteiligten begeisterten und lang anhaltenden Beifall.
Frank Raudszus
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