Beim Rheingau-Musik-Festival erklingt Mozarts „Requiem“ im Kloster Eberbach.
Das Rheingau-Musik-Festival 2015 geht seinem Ende entgegen. Was lag da näher, als zum Ende – genauer: am vorletzten Konzerttag – diese für viele Musikfreunde traurige Tatsache mit einer passenden Musik zu würdigen. Und da bei Trauermusik kaum ein Komponist es mit Mozarts „Requiem“ aufnehmen kann, lag die Entscheidung auf der Hand. Scherz beiseite: natürlich hat die Wahl von Mozarts Trauermusik nichts mit dem Ende des Festivals zu tun, und der Anlass wäre wohl auch zu banal. Aber ein wenig passte es schon.
Für die Ausführung war das „Collegium Cartusianum“ zuständig, ein Ensemble, das aus dem früheren „Kölner Barockorchester“ hervorgegangen ist. Dazu sang der Kölner Kammerchor, und die musikalische Leitung hatte Peter Neumann übernommen, ein ausgewiesener Kenner geistlicher und Alter Musik. Die Solisten enstammten ausnahmsweise durchweg deutschen Landen: Hanna Zumsande(Sopran), Elvira Bill(Mezzosopran), Manuel König(Tenor) und Andreas Wolf(Bass-Bariton).
Eindeutiger Schwerpunkt des Programms war Mozarts „Requiem“, dem eine geheimnisvolle, im Laufe der Jahrhunderte deutlich durch Legenden angereicherte Geschichte anhaftet. Angeblich von einem Unbekannten bei Nacht und Nebel mit einer Trauermusik beauftragt, betrachtete Mozart diese angeblich als seine eigene Todesmusik, obwohl er zu Beginn der Arbeiten noch gar nicht erkrankt war. Dass er das Werk nicht mehr abschließen konnte, passt zu dieser dramatischen Legende um Kunst, Kabale und Todesahnungen. Da nimmt es nicht Wunder, dass noch heute der verdacht durch die Welt geistert, der Hofkomponist Salieri habe Mozart aus Neid vergiftet.
Um das abendliche Programm aufzufüllen – schließlich dauert das „Requiem“ nur eine knappe Stunde – hatte Peter Neumann diesem noch eine zweite Trauermusik an die Seite gestellt, die den Abend auch eröffnete: Georg Friedrich Händels „The ways of Zion to mourn“, das Händel im Jahr 1737 anlässlich des Todes der englischen Königin Caroline komponierte. In dreizehn Sätzen mit Titeln wie „How are the mighty fall´n“, „She deliver´d the poor that cried“, „The people will tell of her wisdom“ oder „They shall receive a glorious kingdom“ wird die zu Lebzeiten sehr beliebte Königin gewürdigt und zur letzten Ruhe geleitet. Die Nähe zu Mozarts Trauermusik wird noch dadurch verstärkt, dass sich Mozart bei diesem Werk offensichtlich Anregungen für das „Requiem“ geholt hat, so etwa den Beginn.
Das Werk verströmt vom ersten Augenblick an eine überhöhte Trauer, wie sie hohen Würdenträgern zusteht. Die Klagen halten sich durchweg in dem gemessen-tragischen Ton des Barocks, der den musikalischen Ausdruck von Gefühlen nur in der ehrfürchtig distanzierten Beziehung zur göttlichen Instanz erlaubte. Das Orchester, das übrigens auf alten Instrumenten spielte, bemühte sich um einen authentischen Klang (soweit das ohne Hörbeispiele aus dieser Zeit möglich ist), der bewusst auf die perfekte Klangwirkung heutiger Orchester verzichtete. Dadurch wirkte die Musik ein wenig wie aus einer anderen, fernen Welt. Die bewusst durch alte Instrumente und entsprechende Spielweise hervorgerufene Schlichtheit, ja fast eine gewisse „Unfertigkeit“, verstärkte noch den Eindruck einer hilflosen Trauer.
Mozarts „Requiem“ sendet dagegen von Beginn an eine ganz andere Botschaft aus. Hier regiert nicht mehr die demütige Klage über ein höheres, still zu ertragendes Schicksal, sondern hier kommen die menschlichen Emotionen unmittelbar zum Ausdruck. Man erkennt daran nicht nur den zeitlichen Unterschied von sechzig Jahren oder den Wechsel vom Barock zur Klassik, sondern auch die Entwicklung des künstlerischen Selbstverständnisses in dieser Zeit. War Händel noch in erster Linie ein Auftragskünstler, der die Wünsche seiner klerikalen und höfischen Kunden erfüllte und dabei die entsprechenden gesellschaftlichen Formen und Rücksichten auch im musikalischen Ausdruck beachtete, so war Mozart nur noch sich selbst als Musiker verpflichtet und brachte selbst in Auftragswerke seine ureigenen Emotionen ein und setzte sie in authentische musikalische Formen um. Viele Figuren meint man in ihrer unmittelbaren Emotionalität aus Mozart-Opern zu kennen, und auch die Sänger – vor allem die Frauen – konterkarierten die hohe Klage mit individuellen emotionalen Gesangsformen, die persönliches menschliches Leid zum Ausdruck brachten. Auch der Chor bricht mit der Tradition der entrückten Klage und bringt – etwa im „Dies irae“ oder im „Rex tremendae“ heftige, elementare menschliche Emotionen zum Ausdruck.
Mozarts „Requiem“ ist vielmehr als nur Musik zu einem Trauergottesdienst und spiegelt einen wesentlich weiteren Bereich der „condition humana“ wider. Die Musik enthält sowohl sinfonische als auch Opern-Elemente, und man kann sich denken, dass so mancher Kirchenmann noch im 19. Jahrhundert diese Messe nicht als ideale liturgische Musik betrachtete. Das „Collegium Cartusianum“ unter der Leitung von Peter Neumann brachte die Besonderheiten dieses Werkes überzeugend zum Ausdruck, ohne jedoch den Opernaspekt zu betonen, ja, die Aufführungspraxis dämpfte den säkularen Seite dieses Werkes sogar ein wenig, um nicht zu sehr in die Nähe der Oper zu geraten.
Die vier Solisten treten in diesem Werk nur an wenigen Stellen als individuelle Solisten auf und singen überwiegend als zweites Ensemble vor dem Chor, der eindeutig den sängerischen Schwerpunkt bildet. Für heutige Ohren haben die Vollender des „Requiems“ – Joseph Eybler und Franz Xaver Süßmayr – gute Arbeit geliefert und die fehlenden Teile des Requiems im Mozartschen Sinne fertiggestellt. Aber man kennt halt nur diese Version und weiß nicht, was Mozart komponiert hätte….
Am Ende hatten die unverkennbaren säkularen Töne in diesem Werk dem Abend ein wenig von der klerikalen Trauerstrenge genommen, die noch das Händelsche Stück geprägt hatten. Zwar ging man nach dem kräftigen Beifall nicht gerade beschwingt nach Hause, aber auch nicht niedergedrückt durch zu tiefe Trauerbekundungen. Mozart bleibt halt Mozart – auch bei Trauermusiken.
Frank Raudszus
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