Das Staatstheater Darmstadt präsentiert Luigi Nonos musikalische Tragödie „Prometeo“ in ungewohnter Umgebung.
Der italienische Komponist Luigi Nono (1924-1990) stand in einer besonderen Beziehung zu Darmstadt. Als einer der ersten ausländischen Komponisten nahm er bereits im Jahr 1950 an den „Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik“ teil und blieb diesen und der Stadt über Jahrzehnte treu. Als überzeugter Linker verarbeitete er eine Reihe aktueller politischer Themen in musiktheatralischen Werke, die als „Oper“ zu bezeichnen wegen der allgemeinen Rezeption dieses Begriffs ihnen nicht gerecht werden würde. Nono löste sich schon früh von der klassischen Tonalität und Harmonik und setzte auf völlig neue Klangformen, die er später auch durch elektronische Hilfsmittel erweiterte. Das Staatstheater Darmstadt erwies ihm bereits zu Beginn dieser Saison mit der Doppel-Oper „Odyssee“ Reverenz, indem sie sein Werk “No hay caminos, hay que caminar” mit Claudio Monteverdis “Il ritorno d’Ulisse in patria” kombinierte.
Das in der europäischen Musik verwendete „diatonische“ Prinzip teilt den Klangraum in Oktaven und diese wiederum in zwölf Halbtonschritte. Diese kombiniert sie zu zwei verschiedenen Tonleitern (Dur und Moll), die jeweils aus einer bestimmten Reihenfolge von (sieben) Ganz- und Halbtonschritten bestehen. Das bedeutet, dass normale Musikstücken – vor allem in der traditionellen E-Musik – nur harmonische Verbindungen von wohl definierten Tönen enthalten. Der Jazz kennt darüber hinaus die „Blue“-Töne, und Streich- wie Blasinstrumente können ebenfalls beliebige Zwischentöne spielen, die üblicherweise jedoch – wenn überhaupt – nur in Solopartien zum Tragen kommen.
Luigi Nono erweitert dagegen den Tonraum durch beliebige Zwischentöne, indem er den üblichen Halbtonschritt weiter teilt bis hinunter zu sechzehntel Tönen, was zu scharfen Klangreibungen führt. Man kann sich vorstellen, welche Anforderungen diese Technik vor allem an Sänger stellt. Da diese neuen Tonhöhen natürlich nicht mehr in das herkömmliche diatonische System passen, gelten auch die harmonischen Gesetze nicht mehr. Luigi Nono baut seine Stücke nicht mehr aus den üblichen Folgen von Tonika, Subdominante und Dominante sowie den entsprechenden Abwandlungen dieser harmonischen Elemente auf sondern schafft eigene Klangkombinationen und -folgen, die sich nur aus den verfügbaren Klangquellen – menschliche Stimme, Streich- und Blasinstrumente, Schlagzeug – und der angestrebten emotionalen Wirkung ergeben. Darüber hinaus hat Luigi Nono schon früh kritisiert, dass der klassische Musikbetrieb mit seinen Konzert- und Opernhäusern ein eingeschränktes weil frontales Konzept verfolgt, bei dem die Musik in einer Art Fluchtpunktperspektive von einer zentralen Bühne dem Publikum unidirektional präsentiert wird. Da der Mensch als audiovisuelles Wesen jedoch rundherum einer Umgebung aus akustischen und visuellen Eindrücken ausgesetzt ist, deckt das artifizielle Musikwesen nur einen begrenzten Teil der akustischen Welt ab. Für eine vollständige Rezeption musikalischer Eindrücke müsste der Mensch inmitten der musikalischen Quellen sitzen oder sich bewegen.
In der „Odyssee“ war diese Idee bereits in Nonos Vorspiel “No hay caminos, hay que caminar” umgesetzt worden, indem das Publikum durch eine Ansammlung verschiedener kleiner Musikergruppen wandelte. Für „Prometeo“ dachte man sich dagegen ein radikaleres Konzept aus. Man mietete für vier Vorstellungen die Sporthalle am Darmstädter Böllenfalltor und baute sie in einen Konzertsaal für maximal dreihundert Zuhörer um. Diese sitzen in sternförmigen Sechsergruppen mit Front nach außen inmitten der Musiker, die in verschiedenen Gruppen – Streicher, Bläser, Sänger – an den Seiten der Halle angeordnet sind. Die Dirigenten des Orchesters und des Chors – Johannes Harneit, Joachim Enders, Thomas Eitler-de Lint – stehen auf erhöhten Podesten inmitten der Zuschauer und dirigieren die jeweiligen Einheiten bzw. das gesamte Ensemble.
Für die Zuschauer hatte sich das Theater einen besonderen Gag ausgedacht. Vor Beginn sprachen Mitglieder der Statisterie die Zuschauer persönlich an und führten sie in kleinen Gruppen an ihre Plätze. Dazu boten sie ihnen Augenmasken an, die sie für den Gang zum Platz und während des zwanzigminütigen „Prologs“ möglichst aufbehalten sollten. Es ging darum, die visuellen Eindrücke zugunsten der akustischen weitgehend auszuschalten, um den Hörsinn zu schärfen und zu aktivieren. Die Medizin kennt nämlich den Effekt, dass bei Ausfall eines Sinns die anderen stärker aktiviert werden, vor allem bei Blinden, die sich nach einiger Zeit hervorragend nach akustischen Eindrücken orientieren können. So liefen wir dann, Hand auf der Schulter des Vordermanns bzw. der Vorderfrau, buchstäblich im Dunklen zu unserem Platz, nahmen ihn mit Hilfe unseres Führers in Besitz und harrten beim Erlauschen der letzten Instrumentalübungen, des schwirrenden Gemurmels rundherum und des abschließenden Stimmens der Instrumente der Dinge, die da kommen sollten.
Bereits die viertelstündige Wartezeit im Dunkeln führte in die Welt des Klangs ein und ermöglichte es, sich darauf zu konzentrieren, wenn man es ernst nahm. Denn nach Abnehmen der Augenklappe ist man sofort den optischen Eindrücken der Halle, des Publikums, der Anordnung der Musiker, der vorbereitenden Tätigkeiten der Dirigenten und der Unterstützung der Statisterie ausgesetzt, so dass man schnell die vermeintlich unwesentlichen akustischen Eindrücke verdrängt. Doch gerade das sollte vermieden werden. Wir können den Zuschauern der nächsten Vorstellungen also nur empfehlen, die Augenklappen nicht nur während des Gangs zum Platz, sondern auch bis zum Beginn der Musik und mindestens während des Prologs aufzubehalten. Man gewinnt so einen ganz anderen Zugang zu der Welt des Klangs, als wenn man sich währenddessen den visuellen Eindrücken aussetzt. Der Rezensent behielt seine Augenklappe während nahezu der gesamten Veranstaltung auf und nahm sie nur kurz zu den Platzwechseln in den Pausen zwischen den einzelnen „Sätzen“ des Werks ab. Diese zyklischen Platzwechsel um zwei Sitze dienen dem Zweck, einen anderen akustischen Zugang zu der Musik zu gewinnen: was man eben von vorne gehört hat, erklingt nun von der Seite, was von dort kam, kommt nun von hinten. Jeder Platzwechsel führt zu einem neuen Eindruck der gesamten musikalischen Wirkung, da die verschiedenen Instrumental- und Vokalgruppen ihre Stellung beibehalten und sich der der Klangraum für den einzelnen Zuhörer damit jedes Mal ändert.
Die räumliche Wirkung des Klangs ist das erste, was dem Zuhörer auffällt. Ein Klang – sei es die Stimme, ein Blasinstrument oder Streichinstrument – setzt an einer Stelle ein, und wandert dann durch die geschickte Struktur der Partitur durch den Raum, ehe sie weiter hinten verklingt. So begegnen sich die Klangwelten der Stimmen, der Bläser, der Streicher und des Schlagzeugs an verschiedenen Stellen im Raum, überschneiden sich, trennen sich wieder und verhallen nacheinander. Mal setzt Nono die Instrumentengruppen nacheinander ein, mal parallel. Mal setzt er Laut gegen Leise, mal Stimme gegen Instrument. Ein musikalisches Thema und dessen Verarbeitung wie in der „klassischen“ Musik – unter dem Begriff „klassisch“ subsumieren wir ausnahmsweise alles vor der Moderne – findet man hier nicht, ebenso wenig wie die herkömmliche Harmonik oder schöne Melodien. Der Klang allein und seine unmittelbare emotionale Wirkung stehen im Mittelpunkt. Dabei sollte man nicht dem Irrtum unterliegen, hier herrsche das musikalische Chaos statt einer durchgängigen Struktur. Die Struktur des gesamten Werkes ist hochkomplex und schlägt sich nicht nur in den gewählten Klangfarben und -kombinationen nieder, sondern ebenfalls in der Abfolge der Sequenzen von Vokalpartien und verschiedenen Instrumentalpassagen. Allerdings erschließt sich diese Struktur dem Zuhörer bei weitem nicht so einfach wie etwa eine herkömmliche Sinfonie mit ihren Allegro-, Presto-, Andante- und Adagio-Sätzen.
Grundlage von „Prometeo“ ist der uralte Mythos von Prometheus, der den Menschen gegen den Willen der Götter das Feuer brachte – das Symbol für die Erleuchtung und Verselbständigung des Geistes. Prometheus protestierte gegen die Allmacht und Willkür der Götter und wollte die Menschen aus diesem Unterdrückungsverhältnis befreien. Dafür ließ ihn Zeus zur Strafe von Hephaistos an einen Felsen im Kaukasus schlagen. Diesen Mythos hat unter anderen Aischylos in verschiedenen Texten verarbeitet. Ein anderer Mythos erzählt von Io, die von einer – von den Göttern gesandten – Stechmücke geplagt wird. Ihr weissagt Prometheus das mögliche Ende der göttlichen Unterdrückung. Nono verarbeitet in „Prometeo“ diese Mythen und darauf verweisende Texte von Sophokles, Euripides, Hölderlin und Rilke. Zentrale Thema sind die Leiden des Menschen unter übermächtigen Instanzen und die Utopie einer endgültigen Befreiung. Angesichts Nonos politischer Einstellung fällt es nicht schwer, diesen Mythos als Metapher auf die Ungerechtigkeiten des Kapitalismus und die Utopie des Kommunismus zu deuten. Doch Nono verzichtet auf eine vordergründige politische Aktualisierung und bleibt streng bei der mythischen Behandlung seines Stoffes. Allerdings stellen sich die Assoziationen an die zeitlosen Aspekte der „conditio humana“ angesichts dieser Konstellation fast von selbst ein. Der Leidensdialog zwischen Prometheus und Io kommt in den mal scharfen, mal düsteren und mal klagenden Klangformen ebenso zum Ausdruck wie die – durch Lautstärke manifestierte – Allmacht der Götter. Dabei durchlaufen die Klangfiguren mehrere Ebenen, die mal nacheinander, mal gleichzeitig ablaufen. Extrem leise Passagen mit einem kaum noch zu unterscheidenden Gemisch aus Stimmen und Bläsern liegen dicht neben Fortissimo-Stellen, vorzugsweise von den Blechbläsern präsentiert. Auch die Streicher nutzen die ganze Bandbreite ihrer klanglichen Möglichkeiten und zaubern dabei mythische Welten in den Raum der Sporthalle. Nicht umsonst lautet der Untertitel „Tragedia dell´ascolto“, was, richtig übersetzt, „Tragödie zum Hören“ bedeutet. Der Imperativ „Ascolto!“ – „Höre hin!“ – ist denn auch im Text immer wieder an zentraler Stelle zu vernehmen.
Lässt man sich – am besten mit verbundenen Augen – auf diese Klangwelten ein, so wird man in eine archaische Welt voller Schmerz, Leid, Wut und Klagen, aber auch Hoffnung und Sehnsucht entführt. Die oftmals elektronisch angereicherten Klänge schaffen eine ganz eigene Welt, die sich immer weiter vom realen Alltag entfernt und einen Eindruck von der Macht antiker Mythen vermittelt. Dass diese Mythen durch unsere moderne Welt nur verdeckt, aber nicht verschwunden sind, schält sich dabei mit zunehmender Spieldauer immer eindringlicher heraus. Vielleicht war es ein Wagnis, solch ein ausgefallenes Werk an das Ende einer Saison zu setzen, aber der Erfolg beim Premierenpublikum hat der Theaterleitung bei dieser Wahl Recht gegeben. Lang anhaltender, zeitweise begeisterter Beifall, der vielleicht nur durch die Tatsache geschmälert wurde, dass diese Musik höchste Anforderungen an den Rezipienten stellt und alles andere als Euphorie und spontane Begeisterung weckt. Eher rührt sie an die Grundfesten der Psyche und lässt den Hörer auch Stunden nach der Aufführung nicht los.
Frank Raudszus
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