Vom Bühnenhimmel hängt zu Beginn ein gigantisches Kondom, das die Blicke der Zuschauer auf sich zieht. Geht es heute im Berliner Varieté-Theater „Chamäleon“ etwa um Verhütung mit Absolutheitsanspruch? Aber nein, das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Im Kondom erwacht etwas zum Leben, regt sich, dehnt sich und streckt sich, versucht, aus der elastischen Umhüllung auszubrechen. Die Phase der Verpuppung ist vorüber, jetzt will etwas Lebendiges raus aus dem engen Gefängnis. Ein weiblicher Körper kämpft sich ins Leben, noch schwach nach seiner heftigen Geburt, noch unfähig, die Glieder gezielt zu steuern. Alles wirkt noch wabbelig, unkontrolliert und zufällig.
Aber das Etwas bäumt sich immer wieder auf, windet sich, aktiviert die Muskulatur und fällt erschöpft in sich zusammen. Dazu erklingen besessene rhythmische Technomusik und Gesang, aber auch beruhigende Cello-Töne. Eine ganz neuartige Mischung aus klassisch gewohnter und zukünftiger Musik.
Alles ist eben anders – auch die Herstellung von menschen. Da werden Figuren eingescannt, neu zusammengesetzt und wieder getrennt, Frauen als Männer neu gescannt, und mit Köpfen wird wie mit Bällen gespielt. Die Lichteffekte verwirren den Betrachter vollends. Ein „Dummy“ bewegt sich im digitalen Netz real – irreal? Es windet sich in der engen Netzstruktur, versucht sich herauszukämpfen und Platz zu schaffen, aber immer wieder schließt das netz selbständig die entstehenden Lücken.
Eine Siebenergruppe mit einem gigantischen Schlangenarm zeichnet Symbolhaftes an eine schwarze Wand, Musik wummert sich in die Hirne. Dann fällt alles auseinander. Am Seil windet sich ein weiblicher „Dummy“ in akrobatischen Übungen. Die Szenerie wirkt wie in ein Feuerwerk hineinkatapultiert. Lichteffekte entführen die Zuschauer in eine Art Drogenrausch – ilusionistisch, rauschhaft, besessen, into the wild…..
Es ist eine wahrhaft tollwütige Show, die im „Dummy Lab“ abläuft. Grandiose Licheffekte verfremden die Akrobatik der Darsteller. Interaktive Videodesigns lassen ein neues Gesamtkunstwerk entstehen, in dem sich konventionelle Sehgewohnheiten auflösen. Alles ist neu, überraschend, lässt staunen. Der extra für diese Show komponierte Soundtrack mit live gespielten Celloklängen und dem romantisch anmutenden Lied „one day I will fly“ lässt die Emotionen hochkochen.
Barbara Raudszus
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