Das Hessische Staatsballett stellt in Darmstadt seine neue Produktion „Transparent Cloud“ vor.
Der Begriff „Cloud“ – zu Deutsch „Wolke“ – stellt in der IT-Branche einen festen wenn auch ziemlich neuen Begriff dar. Darunter versteht man die Verlagerung von Softwareanwendungen in das Internet. Allgemeiner gesprochen: die entscheidenden Dinge geschehen nicht mehr lokal, sondern sozusagen „global“ im Netz. Das lässt sich auf viele Dinge des Alltags übertragen, so, wenn man sieht, wie vor allem junge Menschen mit dem Smartphone verwachsen zu sein scheinen und sich mehr mit diesem Gerät als mit ihrer realen Umgebung beschäftigen. Sie bewegen sich zwar physisch noch in der realen Welt, weilen aber psychisch längst in einer globalisierten, entgrenzten Welt und pflegen Kontakt mit Hunderten oder gar Tausenden virtueller weil persönlich unbekannter „Freunde“.
Die Choreographin Marguerite Donlon hat diese Konstellation als Grundlage für ihre neue Choreographie genommen und in deren Titel den Fachbegriff „cloud“ noch mit dem Adjektiv „transparent“ verbunden. Damit drückt sie die Erkenntnis und das Unbehagen darüber aus, dass in der Internet-„Cloud“ der Einzelne ein Ausmaß von Transparenz gewinnt, das er nie geahnt und meist wohl auch nicht beabsichtigt hat. Der Drang, in „Social Media“ wie „Facebook“ auch privateste Dinge in Wort und Bild offenzulegen, scheint so groß, dass diese Durchsichtigkeit des Individuums entweder nicht wahrgenommen oder für eine umso effektivere Selbstdarstellung billigend in Kauf genommen wird.
Gleich mit der Eröffnungsszene bringt Margeruite Donlon den Begriff der Virtualität auf den Punkt. Auf einem etwa acht mal vier Meter großen Rechteck mit vier eingelassenen kleineren Rechtecken bewegen sich ungefähr ein halbes Dutzend Tänzer und Tänzerinnen in verschiedenen Posen. Ein überdimensionierter, schräg aufgestellter Spiegel projiziert diese Anordnung derart in den Zuschauerraum, dass sich für die Zuschauer im Hintergrund der Bühne eine steile Schräge in die Höhe zu rücken scheint, auf der eine zweite Gruppe turnt. Dabei wird das große Rechteck zu einer Hausfassade aus Klinkersteinen und die kleinen Rechtecke zu Fensteröffnungen. Im ersten Augenblick glaubt man tatsächlich, dass eine zweite Gruppe ohne Absicherung auf einer steilen Schräge herumturnt, bis man dies als Spiegelung erkennt (manche benötigen dafür mehrere Minuten!). Auch wenn man diesen Trick durchschaut hat, bleibt die Wirkung fast unvermindert, denn dem Auge präsentiert sich weiterhin eine wagemutige Gruppe beim „free climbing“ mit mal akrobatischen, mal witzigen Effekten.
Nach dieser etwa zehnminütigen „Ouvertüre“ zu jazzartiger Musik wird das auf dem Bühnenboden gelagerte und nur gespiegelte Rechteck in die Senkrechte gezogen, und nun steht dort tatsächlich eine Hausfassade mit vier Fenstern. In einem der beiden oberen beiden Fenster sitzen abwechselnd verschiedene Mitglieder der Tanztruppe an einem Laptop und bewegen sich offensichtlich virtuell im Internet. Dazu tanzt der Rest der Truppe auf der Bühne davor die Befindlichkeiten der jungen Menschen im Zeitalter des allgegenwärtigen Internet. Eineinhalb Stunden lang werden nun verschiedene Erscheinungen des Internet-Zeitalters verbal und körperlich durchgespielt. Nun ist es nicht so einfach, virtuelle Verhaltensweisen ohne physische Randbedingungen auf die Tanzbühne zu bringen. Natürlich kann man alle mit Smartphones über die Bühne und sich beinahe gegenseitig über den Haufen laufen lassen, und das tut Marguerite Donlon auch. Da wird getippt und telefoniert, gewischt und schwadroniert. Dazwischen erfolgen kurze Kontakte zu real lebenden Personen, die jedoch gleich wieder der Virtualität zuliebe wieder aufgegeben werden.
Zunehmend vereinzeln die Aktionen der Tänzer. Sobald sie das Internet verlassen haben, bewegen sie sich ziellos durch die Gegend, und in der Realität arbeiten sie ihre Orientierungslosigkeit und diverse Frustrationen in Aggressionen ab. Auch die Beziehungen zwischen den Geschlechtern sind gestört, was sich in separaten Einzelaktionen und immer wider aufflackernden Aggressionen zwischen den Geschlechtern niederschlägt. Typische Liebesszenen mit all ihren Konflikten, wie sie im klassischen Ballett oder auch im neueren Tanztheater immer wieder durchgespielt werden, findet man hier nicht. Eine sich in Einzelindividuen auflösende Gesellschaft zieht sich in die Virtualität zurück, wo der Einzelne sich beliebige, von seinen „Freunden“ kaum verifizierbare Identitäten zulegen kann. Der Narzissmus treibt sonderbare Blüten, und irgendwann sucht man den physischen Kontakt mit dem virtuellen Gegenüber gar nicht mehr, weil er meist nur Enttäuschung zur Folge hat.
All diese Befindlichkeiten, Sehnsüchte und Ängste spiegeln sich in den Tanzfiguren wieder, die die etwa zehnköpfige Tanztruppe dem Publikum einzeln oder in kleinen Gruppen präsentiert. Dazu kommt noch der „Parcour-Akrobat“ Lucas Wilson, der die Choreographie durch gewagte Sprünge, Überschläge und Saltos in der Horizontalen und Vertikalen anreichert. Die scheinbare Negation der Schwerkraft in seinen Sprüngen verstärkt den Eindruck der Virtualität und lässt die Grenzen zwischen Realität und Virtualität verschwimmen, genauso wie die Spiegelung zu Beginn.
Die einzige, allerdings akzeptable Schwäche dieser Choreographie besteht darin, dass man die vielen Facetten einer virtualisierten Welt nicht einfach in die reale des Tanzes übertragen kann. Der Tanz ist stets physisch und real und lässt sich nur schwer mit dem Thema der „transparent cloud“ verbinden. Deswegen behilft sich Margeruite Donlon mit einigen wirkungsvollen Assoziationen und Andeutungen: so unterlegt sie den Tanz mit akustischen Sequenzen – von Musik mag man streckenweise kaum reden -, die aus den typischen Signalen eines Smartphones bestehen. Darüber hinaus lässt sie den Tanz weitgehend akustikfrei über die Bühne gehen, das heißt, die weitgehend geräuschfreien Bewegungen der Truppe vermitteln einen schwebenden, eben virtuellen Eindruck.
Auch der Humor kommt in dieser Choreographie nicht zu kurz. Immer wieder flicht sie Einzel- oder Gruppensequenzen ein, bei denen die Tänzer seltsam synchrone Bewegunsgmuster durchlaufen, ähnlich den gleichartigen Mustern der mit dem Smartphone durch die Stadt laufenden oder im Café sitzenden Gruppen von jungen Leuten. Das belustigt als Bewegungsmuster an sich, aber auch als Karikatur der Realität. Als Kontrast wirken die kurzen verbalen Selbstdarstellungen einzelner Personen, die sich per Mikrofon in einer virtuellen Welt in fast rührend hilfloser, bisweilen schon verzweifelter Form um Aufmerksamkeit, Bestätigung und Kontakte bemühen.
So geht es mit viel Tempo, Akrobatik, Körpersprache und Witz eineinhalb Stunden lang, und keinen Augenblick kommt Langeweile auf. Am Ende steht eine einsame Tänzerin vor einem nicht mehr antwortenden virtuellen Publikum und sucht resignierend nach Antworten aus dem Netz. Die kamen dann nach dem Fall des Vorhangs in Form begeisterten Beifalls und vieler „Bravo“-Rufe vor allem der jungen Zuschauer, die bei dieser Premiere zahlenmäßig stark vertreten waren, aber auch während der Vorstellung mit ihrem Smartphone hantierten. Diese Choreographie hat das Zeug zum „Renner“, wenn sie denn in der nächsten Saison wiederaufgenommen wird.
Frank Raudszus
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