Euripides´ Tragödie „Die Bakchen“, inszeniert und benannt von Miloš Lolić als MANIA: eine Entgrenzung nach Berliner Art im Maxim Gorki Theater
Zur Einordnung der Inszenierung MANIA des Belgraders Miloš Lolić lohnt ein Blick in die Partitur des Orginals von Euripides. Die Bakchen entstanden 406 v. Christus. Im Mittelpunkt steht Dionysos (lateinisiert Bacchus), der Sohn des Zeus. Seine Verehrerinnen werden als Baccantinnen oder Bakchen bezeichnet. Dionysos uneheliche Mutter war Semele, die Göttin des Weines und Rausches. Und so wuchs Dionysos als Flüchtling vor der tödlichen Eifersucht der Ehefrau des Zeus Hera auf, währenddessen er als Halbgott die Wonnen des Weines unter das Volk brachte. Schließlich entscheidet er sich für die Rückkehr in seine Geburtsstadt Theben – gefolgt von einer Herrschar ausgelassener Baccantinnen.
Als Dionysos jedoch Theben erreicht, wird er weder vom Herrscher Pentheus eingelassen noch erkennen ihn die Menschen als Gott an. Wutentbrannt erstürmt er die Stadt, und als er den Bewohnen der Stadt leibhaftig erscheint, verfallen sie ihm besinnungslos und schließen sich seinem Gefolge an. Einzig Pentheus widersteht, bezichtigt Dionysos als falschen Propheten und Lügner und bleibt zurück, als die Baccantinnen, unter ihnen seine Mutter Agaue, mit dem Sohn des Zeus in die Berge ziehen. Pentheus Versuch, mit Waffengewalt gegen Dionysos vorzugehen, misslingt. Jedoch kann Dionysos Pentheus bei einem Zusammentreffen vom Wahn seiner Baccantinnen derart überzeugen, dass dieser einwilligt, als Frau verkleidet in einem Baumwipfel versteckt das Treiben und die Orgien einmal zu beobachten. Die Frauen jedoch entdecken ihn, und schließlich ist es unter anderen seine eigene Mutter Agaue, die ihn ohne Wissen seiner Identität in Stücke reißt.
Der orgiastische Kult des Dionysos kann als Kritik am damaligen Opferkult und generell der staatlichen Werte verstanden werden. Hierbei handelt es sich um eine beispielhafte Umkehr des städtischen Opferkultes in ein Geschehen in der Wildnis, wo Tiere bestialisch gejagt und roh verzehrt werden.
Miloš Lolić lässt die Schauspieler schon vor Beginn der Vorstellung auf der Bühne umherlaufen. Die Bühne (Evi Bauer) krönt einzig ein gigantischer verchromter Ballonhund alla Jeff Koons. Erst auf den zweiten Blick macht man einige verdellte Stellen aus, die wohl Imperfektion am sonst Perfekten aufzeigen sollen. Es ist definitiv ein gewaltiger optischer Eindruck, der großes Lob verdient! Wenn die Schauspieler sich nach vorne bewegen, verstummt der Saal, so tun es ihm die Akteure aber auch gleich. Es ist ein langer Moment absoluter Stille, der nur durch eigenes Schmunzeln und das gelegentliche Zucken der Gesichtsmuskulatur der Darsteller bewegt wird. Dann schlägt es urplötzlich mit größtmöglicher Brachialität ein!
Das grotesk Witzige ist der Backflash in die 90er Jahre. Alle tragen Buffalo Plateauschuhe im Orginalstil der unkontrollierten Nachwendezeit Berlins. Heute sieht man diese Modelle sonst nur noch in der Oranienburger Straße, wo sie sich offensichtlich weiterhin großer Beliebtheit erfreuen dürfen. Ohrenbetäubende Technoklänge donnern wie ein Gewitter auf das Publikum herab, wozu sich die Schauspieler in meist monotoner Körperrhythmik schweißtreibend bewegen. Es ist Musik, die durch den Kopf direkt in den Körper vordringt. Und dabei scheint sie ohne Umwege die zentrale Steuerung zu übernehmen, was nichts Schlechtes sein muss aber für Entgrenzung des eigenen Handelns spricht. Wie im Trance wird abgefeiert ohne Gefühl für Zeit und Raum und interaktionsbefreit mit anderen Menschen. Ein jeder ist einzelferngesteuert und scheint Körper, Geist und Seele einfach mal richtig frei zu blasen.
Till Wonka als Dionysos und Aleksandar Radenković als Pentheus spielen die primären Hauptrollen der Aufführung. Sesede Terziyan als Agaue kommt als einzige Frau eine herausgehobene Rolle im Ensemble mit sechs Männern zu. Das Stück wird nicht im eigentlichen Sinne gespielt, sondern eher tanztheatralisch dargeboten. Dazu werden die Texte in Originalfassung mit starker Stimme eingeworfen – Neudeutsch würde man wohl sagen „geshoutet“. Text und Handlung vorher in groben Zügen zu kennen ist durchaus hilfreich, denn neben der akustischen Herausforderung ist vor allem die verschachtelte Sprachweise und grundsätzliche Verwendung historischer Sprachgebilde nicht immer intuitiv eingänglich. Es fordert schon ein sehr hohes Maß an Konzentration, hier alles inhaltlich aufzunehmen. Jedoch lebt die Aufführung ausgesprochen stark von der sehr eingängigen körperlichen Darstellung und Musik, deren Bildsprache genügend Material für intuitives Verständnis sowie gleichfalls Raum für vielfältige Interpretationen lässt. Die Konklusion akustischer und optischer Reizvermengung ist ein wahrlich außergewöhnliches Spektakel, welches für ein dezibeltolerantes Publikum mit Hang zum Expressionismus definitiv empfohlen werden kann.
Malte Raudszus
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