Die Frankfurter Kunsthalle Schirn ruft mit der Ausstellung „Künstler und Propheten“ eine bisher weitgehend in Vergessenheit geratene künstlerische Epoche in Erinnerung.
Das 19. Jahrhundert war eine Epoche gewaltiger Umbrüche. Kriege, Naturkatastrophen und Epedemien hatte es schon immer gegeben, und sie hatten seit dem Mittelalter jedes Mal weltflüchtige Endzeit- und Erlösungspropheten hervorgebracht. Doch das alltägliche Leben in nicht apokalyptischen Zeiten verlief über Jahrhunderte in sich kaum ändernden Bahnen. Der Transport erfolgte per Segelschiff, Pferd oder Ochsenkarren, die Kommunikation über Boten und Briefe. Das Tempo des gesellschaftlichen Lebens änderte sich bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts nur sehr langsam.
Dann jedoch brach mit der Dampfmaschine und der ihr folgenden industriellen Produktion sowie mit der Elektrizität und der darauf aufbauenden technischen Kommunikation ein wahrer Feuersturm von Innovationen über die Menschen hinein. Kommunikation und Verkehr und damit die menschliche Befindlichkeit änderten sich binnen weniger Jahrzehnte dramatisch. Da nimmt es nicht wunder, dass viele Menschen, vor allem sensible Künstler, sich gegen das neue Lebenstempo und seine Auswüchse sperrten. Während die Spezies der pragmatisch handelnden Darwinisten versuchten, sich bestmöglich an die neuen Umgebungsbedingungen anzupassen (und dabei ihren Profit zu machen), fühlten sich die eher beobachtenden und moralisch wertenden Künstlernaturen buchstäblich überrollt und empfanden den einschneidenden Verlust des gewohnten Lebensrhythmus´ als besonders scharf. Protest und Weltflucht im Verein mit einer entsprechenden künstlerischen Ausdrucksform waren die logische Folge.
Einer der ersten dieser Weltflüchtlinge war Karl Wilhelm Diefenbach (1851 – 1913). Er zog sich bereits als junger Mann in verschiedene ländliche Enklaven zurück, widmete sich dort einer visionär-pathetischen bildnerischen Kunstform und zog wegen seines kompromisslosen und charismatischen Wesens schnell weitere junge Künstler an, die ähnlich wie er mit der gesellschaftlichen Entwicklung haderten und sich nach einem einfachen, naturverbundenen Leben sehnten, was immer das heißen mochte. Gusto Gräser (1879-1958), Gustav Nagel (1874 -1952), der sich selbst als Nachfolger Christi bezeichnete, Ludwig Christian Haeusser (1881 -1927) und Friedrich Muck-Lamberty (1891 – 1984) waren entweder – zeitweilige – Schüler Diefenbachs oder sozusagen seine Konkurrenten in der Parallelwelt der Aussteiger und Propheten.
Die Zusammenarbeit von Lehrer und Schüler(n) zeigte jedoch gerade im Falle Diefenbach bald Zerfallserscheinungen, weil Diefenbach persönlich ein egomanischer Tyrann war, der seine diversen Frauen und Kinder so schlecht behandelte, dass sie die ländlichen Enklaven nach kurzer Zeit Hals über Kopf verließen, und auch seine Schüler kamen mit der nahezu despotischen Art Diefenbachs nicht zurecht. So ergaben sich wechselnde Koalitionen und Gemeinschaften, die teilweise miteinander konkurrierten, andere wieder, wie Gustav Nagel, zogen als „Jesus-Verschnitt“ allein durch die Lande und verkauften selbstgemalte Postkarten.
Die Öffentlichkeit spottete über die „Kohlrabi-“ oder „Vegetarier-Apostel“, die schon damals alle tierischen Nahrungsprodukte ablehnten, oder verfolgte sie sogar polizeilich, weil sie in ihren abgelegenen Künstlerkolonien dem Nudistenkult frönten. Anfangs jovialer, dann polemischer Spott ging so leicht in offene Aggession und Ausgrenzung oder Verfolgung über.
Das störte die Künstler-Propheten jedoch weniger, die durchweg mit hohem künstlerischen Talent gesegnet waren, sich gegenseitig befruchteten und in wechselnden Gemeinschaften zusammentaten. Einer dieser Gefolgsleute des „Erstlings“ Diefenbach war Hugo Höppener, der Diefenbach als treuer Jünger zwei Jahre lang folgte und von diesem dafür „Fidus“ (der Treue) genannt wurde. Der Tscheche František Kupka lernte Diefenbach Anfang der 1890er Jahre in Wien kennen und war sofort fasziniert von ihm und seiner Kunst- und Lebensauffassung. Kupka selbst wandte sich wie Diefenbach von der akademischen Malschule ab und war einer der ersten abstrakten Maler, lange bevor diese Gattung bekannt oder gar hoffähig wurde.
Doch nicht nur die oben genannten künstlerischen Zeitgenossen Diefenbachs folgten ihm wie Jünger und übernahmen seine teils esoterische, teils eremitische und teils größenwahnsinnige Lebenseinstellung. Auch auf spätere Künstler übte er einen starken – teilweise posthumen – Einfluss aus. Als einer der ersten ist Egon Schiele zu nennen, der nach dem Abbruch seines Kunststudiums den „Diefenbacher“ Gusto Gräser kennenlernte, der sich bereits Ende der neunziger Jahre Diefenbachs Kommune angeschlossen hatte. Schieles Sehnsucht nach einer „mönchsartigen künstlerischen Bruderschaft“ fand in Diefenbachs Welt einen idealen Fluchtpunkt, und die Bekanntschaft mit Arthur Roessler, selbst ein Diefenbach-Schüler, verwandelte sich nicht nur in eine fast symbiotische Freundschaft, sondern schlug sich auch in einer Reihe von Roessler-Portraits nieder. Schieles kompromissloser, alles nur „Schöne“ ignorierende Stil spricht von dieser Befindlichkeit Bände.
Weitere Adepten Diefenbachs waren der Architekt Johannes Baader, der sich selbst als „Herrgott“ bezeichnete und nach verschiedenen fast surrealistisch zu nennenden Phasen schließlich den DADAismus entwickelte. Heinrich Vogeler dagegen betonte nach dem Ersten Weltkrieg eher den politischen Aspekt und stand den Kommunisten nahe, während sich Friedrich Muck-Lamberts um dieselbe Zeit als Agitator für die Jugendbewegung profilierte.
Die Epoche Diefenbachs und seiner Jünger strahlte noch weit ins 20. Jahrhundert aus. Joseph Beuys zum Beispiel gründete ähnlich wie diese Parteien jenseits des üblichen politischen Profils und beschäftigte sich auch mit messianischen Ideen und Visionen. Kenner seines Werkes entdecken überall Spuren des bewunderten Diefenbach. Ihm folgte Friedensreich Hundertwasser, der ebenfalls einen ganzheitlichen künstlerischen Ansatz verfolgte und einen alternativen, ökologisch geprägten Lebensstil pflegte. Die Epoche der Künstler-Propheten endet 1972, wenn auch mit ironisch gefärbtem Ton, mit Jörg Immendorff, der sich selbst als Künstler-Prophet verstand und sich bewusst außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft positionierte.
Die Ausstellung ist chronologisch und nach Künstlern geordnet. Sie beginnt mit Diefenbachs berühmtem, 68 Meter langen Relief eines mythischen Marsches der Jugend zu einem Tempel, wandert weiter zu seinen Gemälden, Selbstportraits und Zeichnungen und schreitet dann fort zu František Kupka, Gustav Nagel, Joannes Baader, Egon Schiele und den anderen erwähnten Künstlern bis hin zu Friedensreich Hundertwasser. Dabei trifft der Besucher auf seltene Leihgaben, die teilweise aus Privatsammlungen stammen oder aus anderen Gründen lange Zeit nicht zusehen waren. Eine wahre Flut von Eindrücken aus einem bewegten Jahrhundert, das den Wahnsinn in jeder Form gesehen hat, konfrontiert den Betrachter mit surrealen oder jenseitigen Vorstellungen und lässt erahnen, unter welchen psychischen Belastungen diese Künstler gelebt und gearbeitet haben.
Die Ausstellung ist vom 6. März bis zum 14. Juni 2014 dienstags sowie freitags bis sonntags von 10 bis 19 Uhr, mittwochs und donnerstags von 10 bis 22 Uhr geöffnet. Nähere Informationen finden Sie hier.
Frank Raudszus
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