Das Schauspiel Frankfurt präsentiert im Bockenheimer Depot eine stark gekürzte Version von Maxim Gorkis „Nachtasyl“.
Maxim Gorki, selbst im Elend aufgewachsen und bereits früh verwaist, beschrieb 1902 in diesem Stück die katastrophalen sozialen Verhältnisse im zaristischen, vorrevolutionären Russland am Beispiel eines Nachtasyls, in dem die Verlierer der Gesellschaft ein erbärmliches Leben führen, von früheren Zeiten träumen und sich gegenseitig betrügen und misstrauen. Selbst auf der untersten sozialen Stufe gibt es keine Solidarität, man stiehlt einander eher noch die letzte Habe.
Dieses Stück hat die Regisserin Johanna Wehner nun in einer eher ungewohnten Form für die Bühne aufbereitet und mit sechs fortgeschrittenen Schauspielschülern in der alten Straßenbahnhalle des Bockenheimer Depots inszeniert. Dazu hat sie das Stück erst einmal radikal gekürzt. Von dem siebzehnköpfigen Personal der Originalversion bleiben gerade einmal sechs Personen: Baron (Baris Tangobay), Kleschtsch (Matthias Vogel), Luka (Johanna Franke), Nastja (Anabel Möbius), Natascha (Anica Happich) und Pepel (Alexej Lochmann). Diese übernehmen dafür teilweise Texte der anderen Figuren, so etwa des Schauspielers, der sich wegen seines Alkoholkonsums nicht mehr an die großen Rollen seiner Bühnenkarriere erinnern kann. Doch diese Doppelfunktionen sind nicht durchgängig an bestimmte Darsteller gebunden sondern ergeben sich dynamisch aus dem jeweiligen Kontext.
Johanna Wehner hat darüber hinaus auch sämtliche sachlichen Hinweise auf die Infrastruktur und den Tagesablauf des Nachtasyls gestrichen. Hier gibt es weder klar erkennbare, individuelle Profile und Zuständigkeiten, hier sind alle zu austauschbaren, verlorenen Seelen ohne Vergangenheit und Zukunft geworden. Kaum ein Hinweis auf Zweck und Charakter eines Nachtasyls, sondern nur ein symbolischer Raum der Leere und des sozialen wie seelischen Nichts. Dazu hat Bühnenbildner Sami Bill ein verwirrendes Gestell aus Leitern zusammengestellt, auf dem die Darsteller wie Vögel auf einem Baum ihren Platz suchen und sich dort verkriechen.
Zu Beginn des Stücks sitzen die Darsteller zu den Klängen des 2. Satzes aus Beethovens 7. Sinfonie auf dem Leitergerüst und lassen die Musik langsam verklingen, ehe sie aus der Starre erwachen und mit den Dialogen beginnen. Während Gorki seine Figuren noch zusammenhängende Geschichten der Trostlosigkeit erzählen lässt, die so etwas wie eine Handlung erkennen lassen, komprimiert Johanna Wehner auch diese Erzählungen zu einer Kakophonie statischer Befindlichkeiten, die keine Entwicklung mehr kennen. Aus Gorkis Text hat sie die gegenseitigen Verspottungen und Beschimpfungen sowie die persönlichen Verletzungen und Traumata herausdestilliert und lässt sie von den Darstellern in kürzesten Dialogen vortragen. Hier geht es nicht mehr um Gespräche und Austausch von Meinungen, sondern nur noch um die eigene Selbstbehauptung im Hier und Jetzt. Die Prostituierte Nastja zitiert unaufhörlich dieselbe Stelle aus ihrem Liebesroman und zitiert die Erstickungsgefühle einer anderen Rolle, der Baron und Kleschtsch verspotten sie deswegen, und Pepel geht alle um Geld an. Jeder drängt den anderen seine Befindlichkeiten auf, wohl wissend, dass diese sich nicht dafür interessieren. So gehen die stillen Verzweiflungsschreie ins Leere und wecken letztlich nur gegenseitige Aggression. Streckenweise klingt das Stück wie ein komplexes Streichquintett mit streitenden und aufschreienden Stimmen, und es wäre den Versuch wert, die Partitur der fünf Stimmen auf musikalische Strukturen zu untersuchen.
Von Zeit zu Zeit setzt Beethovens Musik wieder ein, und jedes Mal beenden die fünf Protagonisten abrupt ihre Streitereien und laufen zur rückwärtigen Wand, die – symbolhaft! – im Goldton erstrahlt, und lauschen dichtgedrängt der Musik hinter der Wand. Die Musik steht für Trost und die Utopie eines erfüllten Lebens, die fünf Verlorenen suchen verzweifelt einen Weg aus ihrem Verlies, um zum Ursprungsort der verheißungsvollen Musik zu gelangen, und verschwinden dabei in den Weiten des Bockenheimer Depots. Wenn die Musik verstummt, kommen sie einzeln und ernüchtert zurück, um den Alltag des Nachtasyls wieder von vorne zu beginnen.
Dieser Ablauf von Streitereien, Sehnsüchten und Verzweiflungsattacken wiederholt sich zwei Mal in fast ungeänderter Abfolge, bevor Luka auftritt. Mit dieser Wiederholung betont die Regisseurin das Unentrinnbare und den geradezu tödlichen Kreislauf des Elends ohne Ausweg. Der Pilger Luka, der im Original bereits früh auftritt und durchgängig die Hoffnung eines besseren Menschseins darstellt, tritt hier erst zu einem späteren Zeitpunkt auf und sorgt auch für einen Bruch des Elendkreislaufs, ja, er bringt sogar Hoffnung, indem er zum ersten Mal die Menschen in den Verlassenen anspricht und ihnen einen Wert zugesteht. Doch kann er sich letztlich gegen die Verhärtungen der Verzweiflung nicht durchsetzen und verliert zunehmend an Wirkung. Johanna Franke zeigt das eindrucksvoll durch ihre Mimik, die anfangs noch leuchtend und überzeugend wirkt, dann immer mehr ins Skeptische und schließlich ins Versteinerte, Enttäuschte umkippt. Diese Menschen sind unwiderbringlich verloren und können selbst durch noch so gut gemeintes Pathos nicht mehr aus ihren Niederungen befreit werden. Gorki ist hier durch und durch Pessimist, und Johanna Wehner hat diesen zeitlosen Pessimismus auf ihre eigene, eher transzendente Art umgesetzt.
Einen kleinen Schimmer des Optimismus gönnt sie den Zuschauern am Ende aber doch noch: der Schauspieler, hier von dem Darsteller des Barons mit abgedeckt, der in der Art eines „running gag“ sich die ganze Zeit trotz verzweifelnden Grübelns nicht an die Worte Hamlets erinnern konnte („Sein- oder?“), findet plötzlich den Text wieder und memoriert den gesamten Hamlet-Monolog, einerseits eine Befreiung aus der Qual des Vergessens, andererseits Metapher der Situation im Nachasyl:
„Sein oder Nichtsein; das ist hier die Frage:
Obs edler im Gemüt, die Pfeil und Schleudern
Des wütenden Geschicks erdulden oder,
Sich waffnend gegen eine See von Plagen,
Durch Widerstand sie enden? Sterben – schlafen –……….“
Wir zitieren hier den Anfang des Monologs bewusst, da Baris Tangobay in der Inszenierung den gesamten Monolog vorträgt und damit dessen Bedeutung für die Inszenierung betont.
Die sechs Darsteller, Schauspielschüler im dritten Jahr, beeindrucken durch ihr präzises Spiel und vor allem ihre mimische und gestische Variabilität. Neben dem Aufbrausen und expressiven Spiel, das junge Leute bekanntlich besonders lieben, zeigen sie jedoch auch im flüchtigen, verhaltenen und scheinbar unbewussten Minenspiel sowie im körpersprachlichen Ausdruck erstaunliches Können. Dadurch gewinnt diese Inszenierung, die kaum eine fortschreitende Handlung erkennen lässt, hohe Dichte und darstellerische Tiefe. Obwohl von dem ursprünglichen Gorki nicht viel übrig geblieben ist, kommt doch die Grundaussage der Verzweiflung, der Hoffnungslosigkeit und des menschlichen Bodensatzes überzeugend zum Ausdruck.
Frank Raudszus
Alle Fotos © Birgit Hupfeld
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