Die Kammerspiele des Staatstheaters Darmstadt inszenieren Klaus Manns „Geschwister“.
Diese Inszenierung stand von vornherein unter einem schlechten Stern. Grundlage des Theaterstücks des jungen Klaus Mann, in dem dieser im Jahr 1930 seine Pariser Erfahrungen verarbeitete, ist Jean Cocteaus Roman „Les Enfant terribles“, eine verzwicktes psychologisches Drama um das verwaiste Geschwisterpaar Paul und Elisabeth, das in einer gemeinsamen Wohnung lebt. Im Roman pflegt Elisabeth sowohl ihre kranke Mutter als auch den nach einem Unfall erkrankten Paul. Ein Schulkamerad, zu dem sich Paul erotisch hingezogen fühlt, hat ihn mit einem Schneeball am Kopf getroffen, und seitdem zeigt Paul Ausfallerscheinungen, die wohl eher psychosomatische Ursachen haben, etwa die damals immer noch tabuisierte Homosexualität, zu der sich auch Klaus Mann bekannte. Paul und Elisabeth quälen sich gegenseitig mit einem Psychospiel, bei dem derjenige gewinnt, der das letzte Wort behält, und verwahrlosen durch Untätigkeit und Alkohol. Gerard, ein Freund der beiden, versucht ihnen zu helfen, verschafft Elisabeth eine Stelle als Mannequin und sogar einen reichen Amerikaner als Mann, der jedoch noch vor der Hochzeit stirbt.
Elisabeth lernt die junge Agathe kennen, die schnell Anschluss an beide gewinnt. Als Elisabeth unabhängig voneinander von Paula und Agathes gegenseitiger, noch nicht erklärter Liebe erfährt, hintertreibt sie die Liaison, indem sie beide von der Antipathie des jeweils anderen überzeugt. Sie kann Pauls mögliches Glück nicht ertragen und überzeugt sogar Agathe und Gerard, einander zu heiraten. Als schließlich das Kartenhaus ihres Komplott zusammenbricht, nimmt Paul eine Überdosis Drogen. Doch bevor er stirbt, muss er erleben, wie Elisabeth ihn mittels eines Revolvers überholt und so – in ihrem Spiel – das letzte Wort behält.
Von dieser komplizierten Geschichte hat Klaus Mann nur einzelne Szenen zu seinem Theaterstück zusammengestellt. So taucht zum Beispiel Agathe wie aus dem Nichts auf, und die jeweiligen Liebeserklärungen fallen wie gestanzte Beichten in kompakter Form und einer überromantisierten Sprache, die so gar nicht zu dem sonstigen Vokabular passt. Die langsame Entwicklung der psychischen Grenzsituation fällt auf der Bühne ganz weg und damit auch das Verständnis, wie es so weit kommen konnte. Die Geschwister werden nicht langsam krank, sie sind es schon. Das Theaterstück zeigt die Symptome, aber nicht die Ursachen.
Soviel zum Bruch zwischen Vorlage und Theaterversion. Doch damit nicht genug. Das Programmheft gibt leider keinen Aufschluss über den literarischen Hintergrund, sondern liefert lediglich einen Kurz-Essay über risikobehaftetes und langweiliges Leben. Demnach ist das bürgerliche Leben der Vernunft ein langweiliges, da es das Leben um des „Überlebens“ willen zu verlängern trachtet, während der Unvernünftige die Lebensrisiken um des „Erlebens“ willen sucht und einen möglichen frühen Tod akzeptiert. Der alte Topos von der Kerze, die an beiden Enden brennt. Man kann eine solche „unvernünftige“ Lebenseinstellung akzeptieren, aber nur, wenn sie dafür in einer Verdichtung des Lebens sichtbar größere Erfüllung bringt. Mozart, aber auch Jimmy Hendrix oder Rainer Werner Fassbinder mögen hier als Beispiele dienen. In diesem Theaterstück geht es jedoch nicht um zwei Menschen, die alle Vernunft beiseite schieben, um ein selbst gesetztes Ziel zu verwirklichen, sondern diese beiden fristen ein Leben in Lethargie, Alkoholkonsum und gegenseitigen Quälereien, das nur ein Ziel kennt: den Tod – auch wenn sie das nicht aussprechen. Die Unvernunft ist hier sozusagen das Programm und gerinnt zum Selbstzweck. Damit bricht jedoch die These von dem reicheren Leben des Risikobereiten zusammen, denn hinter dem Risiko wartet kein potentieller Gewinn, wie auch immer dieser geartet sein mag.
So beginnt die Inszenierung mit der doppelten Hypothek der mangelnden (inhaltlichen) Verständlichkeit und einer falschen Ausgangsbasis. Die Umsetzung selbst kann diese Einschränkungen leider weder durch überzeugende Regie noch durch schauspielerische Leistungen wettmachen. Der Zuschauerraum ist – wie schon bei den letzten Inszenierungen – in zwei gegenüber liegende Blöcke aufgeteilt. Daher müssen die Schauspieler sozusagen ein „Rundum“-Spiel inszenieren, was nicht immer der Verständlichkeit zugute kommt. Darüber hinaus ist das Zimmer mit den beiden Betten und den anderen Utensilien – Schreibtisch, Schrankwände – noch teilweise verglast, so dass die Szenen hinter diesem Glas zusätzlich akustisch gedämpft sind. Auch auf bereits angejahrte „Bühnengags“ will Bühnenbildner Christoph Ernst nicht verzichten. So erfüllen die beiden – übrigens recht kleinen – Monitore an der Bühnenseite keinen anderen Zweck, als das , was auf der Bühne öffentlich sichtbar geschieht, noch einmal schwarzweiß und im Kleinen wiederzugeben. Hatte Frank Casdorf noch die in Containern sich abspielende Handlung per Kamera auf eine große Leinwand übertragen, entfällt diese Argumentation. Die Monitore lenken den Blick eher ab als dass sie eine neue Perspektive bieten.
Doch dies sind eher technische Anmerkungen, die sich vielleicht sogar ändern ließen. Viel mehr schlägt die fehlende darstellerische Dichte zu Buche. Man verspürt keinen Augenblick lang die abgrundtiefe psychische Verlorenheit der Personen, wie man sie von der gegebenen Situation her erwartet. Zwei Menschen, die sich in klaustrophobischer Enge aneinandergekettet haben, sich immer wieder in den selben Gesprächsschleifen bewegen und sich als Schutz vor der Umwelt unter der Bettdecke verkriechen oder zu Alkohol und Nikotin greifen, sollten mehr Verzweiflung und Ausweglosigkeit darstellen als diese Darsteller es tun. Die Dialoge wirken eher gewollt „cool“ und galgenhumorig als existenziell gefährdet. Wenn die beiden auf den Betten tanzen oder in die Badewanne steigen, so wirken sie stets wie gelangweilte Kinder, die sich einen Spaß auf Kosten des anderen machen wollen.
Regisseur Heiko Raulin lässt Paul und Elisabeth von dem (echten) Geschwisterpaar Laura und Malte Sundermann spielen. Wenn dies nicht dramaturgischer Zufall ist, was möglich aber wenig wahrscheinlich ist, dann hat es wiederum den „haut goût“ des Nur-Originellen, sprich: es ist ein Regie-Gag ohne inhaltliche Begründung. Denn man mag ja nicht annehmen, dass sich die Sundermanns in einer ähnlichen Situation befinden wie Paul und Elisabeth…..
Die fehlende psychologische Dichte und existenzielle Ausweglosigkeit mag auch an der ausgekämmten Szenenfolge des Stücks liegen, das keine langsame psychologische Entwicklung und Steigerung zulässt. Doch maßgeblich ist die Regie dafür verantwortlich, denn sie „lockert“ immer wieder die Situation durch angedeutete Gesangs- oder Sprecheinlagen am Mikrofon und durch eher groteske Einfälle auf, die zu unfreiwilliger Komik führen, so etwa, wenn sich Paul in voller Kleidung duscht. Dahinter wird nicht eine Verzweiflung spürbar, die jegliche Vernunft zum Teufel schickt, sondern eher der Versuch, sich in den Vordergrund zu spielen (die Figur, nicht der Darsteller). Prompt kam es bei der Premiere auch an verschiedenen Stellen zu Lachern, an die Klaus Mann sicher nicht gedacht hatte.
An anderer Stelle zeigt die Inszenierung trotz ihrer Kürze von etwa neunzig Minuten deutliche Längen, was daran liegt, dass sich die Abläufe des Öfteren wiederholen. So wird die Anfangspassage mit Schlafen, Reden, Trinken fast ungeändert zwei Mal durchlaufen wird, und wenn Paul gegen Ende die tödliche Droge schluckt, so kaut er minutenlang auf dem Knödel herum, während er und die anderen sich wie Salzsäulen gegenüber stehen. Dass er dann beim langsamen Sterben eher beiläufige, fast heitere Bemerkungen von sich gibt und Elisabeth mit der Pistole herumspielt, bis sich diese als Feuerzeug entpuppt, nimmt dem Stück am Schluss jeden Anflug von Ernsthaftigkeit oder gar Tragik. Schließlich geht es hier um einen Doppelselbstmord zweier unglücklicher junger Menschen. Das Ehepaar Agathe und Gerard blickt dazu – frei nach dem Struwwelpeter – stumm auf der ganzen Bühne herum.
Neben den Geschwistern Sundermann, von denen man sich mehr abgründige Verzweiflung als drogengeschädigte gegenseitige Neckereien gewünscht hätte, bleibt Mathias Znidarec in der zugestandenermaßen undankbaren Rolle des Gerard etwas blass, während Jeanne Devos es mit der Exaltiertheit etwas übertreibt. Ihr Liebesgeständnis („Ich himmele ihn an!“) wirkt wie in ein falsches Jahrhundert verrutscht. Dafür wirkt ihre Verzweiflung bei der Entdeckung von Elisabeths Komplott überzeugend.
Der Beifall des Premierenpublikums war deutlich gebrochen: kräftig aus einzelnen Ecken, gebremst und höflich aus anderen.
Frank Raudszus
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