In Darmstadt gastiert das Hippie-Musical „Hair“.
Im Jahr 1968 reichte dieses Musical fast für einen Skandal; zumindest trennte es das Publikum in einen begeistert applaudierenden und einen ablehnenden Teil. „Hair“ brach mit fast allen Konventionen und Regeln, nicht nur inhaltlich sondern auch formal. Zu einer Zeit, als der Vietnam-Krieg noch als offizielle Doktrin der USA und der NATO galt und nur von einer kleinen Gruppe pazifistischer Außenseiter kritisiert wurde, setzte dieses Musical ein Zeichen und weckte nicht nur Aggressionen in konservativen Kreisen sondern auch begeisterte Zustimmung vor allem bei jungen Menschen.
Die Ausgangslage des Musicals verweist auf ein damals übliches Verfahren, das man durchaus als zynisch betrachten kann. In einer öffentlichen Lotterie wurden einzelne Jahresdaten gezogen, die dann als Geburtstage der mehrerer Jahrgänge für die Rekrutierung von Soldaten herangezogen wurde. Dieses makabre Spektakel findet dann auch bereits vor dem Beginn des Musicals auf der Bühne statt, die von Dutzenden jungen Menschen in der biederen Kluft der sechziger Jahre bevölkert ist. Einer nach dem anderen gehen die jungen Männer mit entsprechendem Geburtsdatum nach vorne und holen sich ihre Bescheide ab. In der Folge rebellieren sie, verbrennen ihre Musterungsbescheide und gehen in den Untergrund. Hauptpersonen sind der Farbige Hud, der gegen die Rassendiskriminierung kämpft, der ehemalige Soldat und Junkie Berger, der längst die bürgerliche Bahn verlassen hat, die Aktivistin Sheila, die an die Kraft der Sternbilder glaubt („Aquarius“) und auf etwas naive aber engagierte Weise Frieden, Völkerverständigung und Liebe predigt, sowie der junge Claude, dessen spießige Eltern ihm geradezu mit einer gewissen Schadenfreude den Einberufungsbescheid präsentieren. Jetzt könne er endlich einmal beweisen, dass er zu etwas tauge.
Claude ist zwischen der Dissidentengruppe und seiner staatsbürgerlichen Pflicht hin- und hergerissen, verbrennt seinen Bescheid nicht, verbringt aber die meiste Zeit mit der bunten Truppe der jungen Außenseiter, die ihn nicht nur drängen unterzutauchen, sondern ihn auch mit Drogen und einem anarchischen Sex bekannt machen. Claude liebt Sheila, diese aber Berger, der sie aber auch höchstens „mitnimmt“. Ein anderer junger Mann entdeckt seine Liebe zu Männern, und die schwangere Jeannie liebt Claude, weiß aber nicht einmal, von wem ihr Kind ist. Es herrschen einerseits Chaos und Anarchie in der Gruppe, andererseits eine dedizierte Abneigung gegen den (Vietnam-)Krieg und die Aussicht, für nichts und wieder nichts zu sterben. Claude geht widerstrebend nach Vietnam und fällt dort. Am Schluss tragen Eltern und Freunde seinen Sarg und singen ein Requiem auf ihn und gegen den Krieg („Let the Sunshine in“).
Fast die gesamte Handlung spielt in dem Biotop der Hippies, die sich abseits der bürgerlichen Umgebung eine eigene Welt mit „Sex & Drugs & Rock´n Roll““ geschaffen haben. In diesem Kreis wird auch der Widerstand gegen Krieg (und Kapitalismus) organisiert und diskutiert und die Abkehr von Eltern und anderen Autoritäten eingeübt. Im Prinzip ist das Musical eine einzige Provokation und Anklage gegen die (damals) herrschenden Verhältnisse vor allem in den USA.
Diesen geradezu anarchischen Widerstand hat das Musical Ende der 60er Jahre erfolgreich zum Ausdruck gebracht. Wenn man dieselbe Wirkung heute erreichen will, muss man sich – vor allem in Deutschland – etwas einfallen lassen. Der Vietnam-Krieg ist längst Geschichte (heute sucht Vietnam bei den USA Schutz vor China!), selbst die USA haben den Fehler der Kriege im Irak und Afghanistan erkannt und sie – weitgehend – beendet, und die deutsche Regierung und Öffentlichkeit stehen allen kriegerischen Verwicklungen der USA und der NATO kritisch gegenüber. Von kritikloser Gefolgstreue – wie etwa 1968 – kann keine Rede mehr sein. Von daher reißt „Hair“ heute politisch keinen Zuschauer mehr von den Sitzen. Führt man es dennoch auf, so muss man die damalige Situation deutlich herausarbeiten und notfalls zuspitzen, um die Befindlichkeit der jungen Menschen von 1968 emotional zu veranschaulichen.
Das ist dem Regisseur Sam Brown leider nicht gelungen. Bei ihm kommt das Musical eher wie eine Nummernrevue eines Unterhaltungsensembles daher, das vor allem schmissige Musik sowie ein wenig „Sex & Drugs“ auf die Bühne bringen will. Zeitweilig erinnert die Inszenierung in ihrer Biederkeit an eine bessere Schüleraufführung. Das beginnt schon mit dem Orchester. Statt eine Band wilder Rock-Musiker mitten auf die Bühne zu stellen und sie sozusagen im Stile der provokanten Rockbands der späten Sechziger mit den Darstellern interagieren zuz lassen, verkleidet der Regisseur die Musiker in „Country-Musiker“ mit adretten gelben Anzügen und gut sitzenden Cowboyhüten und platziert sie in einer ordentlichen Reihe an die Rückwand der Bühne. Hier spielen sie zwar professionell auf, doch das Ambiente ist eher das einer „Town-Hall“ im mittleren Westen der USA, wo alles noch seine evangelikale Ordnung hat. Davor agieren die Darsteller in und um zwei Doppelhaushälften, die durch entsprechendes Drehen mal die Innen- und mal die Außenseiten herzeigen. Die ordentliche, abgezirkelte und langweilige Architektur soll wohl auf das Spießige der damaligen US-Kultur verweisen, schlägt aber als Bumerang auf die Inszenierung selbst und damit auf die Hippies zurück. Verstärkt wird dieser „rechtwinkliche“ Ansatz noch durch eine uninspirierte Beleuchtung, die sich über weite Strecken auf eine gleichmäßige, helle Ausleuchtung des Bühnengeschehens beschränkt. Man hätte das Anarchische, Widerständige und Unkontrollierbare dieser Jugendbewegung durch entsprechende Lichteffekte herausarbeiten können – doch: Fehlanzeige.
Ähnliches gilt für die Personenführung. Abgesehen von den expliziten Tanzszenen, die durchaus temperamentvoll ablaufen, agieren die Darsteller oftmal zu statisch. Konflikte innerhalb der Gruppe werden eher verniedlicht und damit tendenziell ins Komische abgeschoben. Der halb durchgedrehte Berger (Markus Schneider) kommt nicht als explosiver Grenzcharalter sondern eher als transsexueller Komiker daher, der Farbige Hud (Victor Hugo Barreto) verströmt in seiner Heiterkeit keine glaubwürdige Wut auf die Weißen, Sheila (Nedime Ince) ist weniger fanatisch als ekstatisch, und Jeannie (Lisa Huk) ist mehr ein liebes Dummchen denn eine an den Männern verzweifelnde Schwangere. Alle Figuren laden zu freundlicher Identifikation und nicht zu Reibungen ein. Selbst die Eifersucht zwischen den Protagonisten trägt Züge pubertärer Verirrungen, die sich morgen schon wieder legen.
Man hat den Eindruck, dass die Regie hier nur auf den kommerziellen Erfolg bei einem breiten Publikum spekuliert, für das der Vietnamkrieg ferne Geschichte ist und die Proteste der Hippies gegen diesen Krieg nur bunte Folklore sind. Hauptsache, die Lieder kommen gut rüber und laden zum Mitsingen ein. Und so ist denn auch die Reaktion des Publikums. Da sich die jüngeren Zuschauer von der Handlung wegen der mangelnden Schärfe nicht berühren lassen, bleiben nur die melodisch netten Lieder. Die Älteren erinnern sich vielleicht an die Zeit und sehen – aus den selben Gründen – eher ihre Jugend als den historischen Hintergrund des Musicals vor sich. Man genießt ein wenig die Musik und die bunten Bilder, zeigt aber ansonsten keine Betroffenheit. So gibt es folgerichtig auch kaum Szenenapplaus, was wiederum daran liegt, dass auch die Sänger die Lieder nicht mit der für eine stärkere Wirkung erforderlichen Schärfe und Kompromisslosigkeit vortragen, sondern stets die musikalische Gefälligkeit in den Vordergrund stellen.
Am Ende geht man nach Hause, denkt: „ein ganz netter Abend“ und hat die Aufführung am nächsten Morgen bereits vergessen.
Frank Raudszus
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