Im 3. Sinfoniekonzert des Staatstheaters Darmstadt dirigiert Hans Drewanz Dvorak und Schostakowitsch.
In diesem Jahr feiert nicht nur der Mauerfall sein internationales 25. Jubiläum, sondern ebenfalls der Darmstädter Verein der „Freunde des Sinfoniekonzerts“ sein lokales Jubiläum der selben Dauer. Dieser Vergleich mag manchem Leser arg asymmetrisch vorkommen, aber für die Darmstädter Freunde der Musik ist das Jubiläum doch von einiger Bedeutung, da die Mitglieder des Vereins durch ihre Beiträge die Auftritte großer Musiker in Darmstadt ermöglich(t)en.
Man hatte sich für diesen Tag etwas Besonderes ausgedacht. Nicht der Generalmusikdirektor oder gar irgendein auswärtiger Gastdirigent stand am Pult, sondern der ehemalige, mittlerweile 85jährige Generalmusikdirektor Hans Drewanz, der das Darmstädter Sinfonieorchester über dreißig Jahre lang leitete und auch danach keine musikalische Ruhe gab, sondern sich weiterhin intensiv mit der Musik beschäftigte. Der neue Intendant Karsten Wiegand hierlt denn auch vor Beginn des Konzerts eine kurze Ansprache, die sowohl dem Verein der Freunde des Sinfonieorchesters als auch dem unvergessenen musikalischen „Lokalmatador“ galt.
Der begab sich nach der Laudatio schwungvoll an das Dirigentenpult, um das erste Werk des von ihm selbst zusammengestellten Programms zu präsentieren, Antonin Dvoráks Konzert für Violoncello und Orchester h-Moll op. 104. Dazu hatte man den international renommierten Cellisten Daniel Müller-Schott engagiert, der das Konzert in diesem Jahr bereits mit den Berliner Philharmonikern interpretiert hatte. In dieser zeitlichen Nähe also eine echte Herausforderung für das Darmstädter Orchester.
Der erste Satz des Cellokonzerts beginnt mit einem langen Orchestervorspiel, das verschiedene Themen vorstellt und bei dem vor allem das Horn und die Klarinette in den Vordergrund treten. Danach setzt das Cello ein, und Daniel Müller-Schott bewies gleich mit den ersten Strichen seine musikalische Leidenschaft, mit der er dem Stück seine eigene Prägung gab. Das Cello schwelgt in breit ausgemalten Klangflächen, die das Orchester harmonisch ergänzt oder von Zeit zu Zeit mit eigenen Zwischenspielen kontrastiert. Im Laufe des Satzes steigert sich das Cello in geradezu aufgewühlte Läufe und Figuren, die von den Flöten mit dem Hauptthema begleitet werden. Beeindruckend waren bei aller Leidenschaftlichkeit des Cello-Vortrages Präzision und Transparenz, die das Spiel im wahrsten Sinne des Wortes wie ein leichtes Spiel wirken ließen. Hans Drewanz positionierte das Orchester als gleichwertigen Partner neben dem Solisten, ohne dabei dessen Entfaltungsmöglichkeiten in irgendeiner Weise einzuschränken. Der zweite Satz besticht durch die lang gezogenen Melodiebögen, die einen leicht elegisch- melancholischen Eindruck hinterlassen. Doch Daniel Müller-Schott verlieh dieser verträumten Melodie einen eher kraftvollen Charakter und erreichte dadurch eine hohe Dichte und Intensität. Auch hier ergänzten die Hörner und Holzbläser das Klangbild zu einem warmen, volltönenden Gesamteindruck. Der dritte Satz beginnt mit einem marschartigen Rhythmus, der sich jedoch bald ins Tänzerische wendet. Dazu geriet Daniel Müller-Schotts Cello geradezu ins „Singen“ und schlug das Publikum förmlich in seinen Bann. Die virtuose Technik des Solisten kam hier vollständig zum Tragen, und das Orchester setzte mit kurzen, dramatischen Zwischenspielen kontrastreiche Akzente. Eine lange, äußerst innige Passage, die Daniel Müller-Schott mit höchster Intensität vortrug, führt auf das noch einmal leidenschaftliche Finale hin. Das Publikum, das allen drei Sätzen gebannt und ohne (Husten-)Laut gelauscht hatte, applaudierte stürmisch und erhielt mit Maurice Ravels „Habanera“ noch eine Zugabe, die musikalisch an Dvoraks Cellokonzert nahtlos anschloss.
Das zweite Werk auf dem Programm war ein wahrhaft „dicker Brocken“: die 8. Sinfonie in c-Moll von Dmitri Schostakowitsch, die im Jahr 1943 entstand. Schostakowitsch wollte in dieser Sinfonie die Schrecken des Krieges, speziell die gerade siegreich beendete Schlacht von Stalingrad, beschreiben. Nach heutiger Sicht war das jedoch eher eine Schutzbehauptung, denn im Grunde genommen wollte er die Schrecken der Sowjetunion, vor allem für eigenständige Intellektuelle und Künstler, darstellen.
Die Sinfonie sprengt das übliche Schema in verschiedener Hinsicht. Allein die Länge von knapp eineinhalb Stunden, wobei allein der erste Satz sich über eine halbe Stunde erstreckt, ist außergewöhnlich. Bereits daran kann man jedoch den existenziellen Druck spüren, der sich in langen, fast schon quälenden Passagen entladen musste. Darüber hinaus zeichnen starke Intensitätswechsel in harmonischer, rhythmischer und metrischer Hinsicht das Werk aus.
Der erste Satz (Adagio – Allegro non troppo) beginnt tief in den Cellos, dann kommen die Violinen mit kurzen aufsteigenden Motiven hinzu, die wie Aufschreie wirken. Über lange Passagen prägen unterirdische Klänge mit klagender Geste den Satz, und die Streicher knüpfen einen dichten, fast hermetischen Klangteppich. Die Holz- und Blechbläser steigern dabei noch die Intensität dieser erstaunlich tonalen Musik. Dabei muss man die Tonalität wohl auch als ein Zugeständnis an die musikalisch äußerst konservative Grundhaltung der Machthaber – sprich: Stalin – sehen. Doch durchbricht Schostakowitsch diese vordergründige Tonalität immer wieder mit drohend-ostinaten Cellofiguren, die sich zu dissonanten Ausbrüchen mit zusätzlichen Paukenwirbeln steigern. Ein dominanter Marschrhythmus geht über in ein wahres Schlachtengetümmel (daher wohl der Beiname „Stalingrad“) einschließlich Siegesfanfare, und der Satz endet mit einem elegischen Solo der Oboe und einem klagenden, resignierenden Thema in den Streichern.
Der zweite Satz (Allegretto) kommt als fast tänzerischer und scheinbar optimistischer Marsch daher. Die Piccolo-Flöte meldet sich mit einem geradezu aufmüpfigen Solo, und es breitet sich eine fast harlekinartige Atmosphäre, ein wenig wie in Strauss´ „Till Eulenspiegel“ aus. Doch ist dieser burleske Stil ironisch gebrochen mit einem unverkennbaren Zug der Bitterkeit.
Der dritte Satz (Allegro non troppo) beginnt mit ostinaten Viertelnoten der Bratschen, die sich in den Violinen fortsetzen und dann auf die Bläser übergehen. Das Ganze wirkt wie eine brutalere Version der Musik von Philip Glass. Die wiederholten Steigerungen enden jedes Mal in scharfen Dissonanzen, dann wieder prägen weite, langsam schwingende Figuren mit einem klagenden Charakter das Stück, nur um wieder abgelöst zu werden von einem harten Marschrhythmus.
Das „Largo“ des vierten Satzes beginnt tief in den Streichern und wirkt in seiner Somnambulität wie ein einziger langer Rückzug in Verinnerlichung und Klage. Der Finalsatz dagegen beginnt fast frühlingshaft mit Motiven der Flöten, die wie Vogelstimmen anmuten und schließlich in eine Volksliedidylle übergehen. Dann aber wechselt der Rhythmus in eine lebhaftere Gangart. Der fast kammermusikalische Beginn geht über in eine volle Orchestrierung einschließlich Paukenwirbeln und Beckenschlägen und steigert sich in einen apotheotischen Rausch, der einem Finale gut anstünde. Doch Schostakowitsch beendet diese Sinfonie nicht mit dem fulminanten Schlussakkord, der so etwas wie Siegesfreude oder Optimismus verbreiten könnte, sondern wechselt noch einmal zu den leisen Tönen, die er fast schmerzhaft langsam und lange hinzieht, mit feinsten Nuancen der Streicher und Holzbläser und vielen intermittierenden Pausen. Der Satz verklingt dann in einem Pianissimo, das eine fast jenseitige Resignation zum Ausdruck bringt.
Das Orchester und vor allem der trotz seines vorgerückten Alters außerordentlich agile Hans Drewanz vollbrachten mit dieser Interpretation eine wahrhaft großartige Leistung, nicht nur physisch – wegen der Länge und der Intensitätswechsel – sondern vor allem psychisch, denn diese Sinfonie erfordert nicht nur höchste Konzentration sondern auch eine besondere musikalische Feinfühligkeit und Beachtung der Feinheiten der Instrumentierung. Vom ersten bis zum letzten Takt traten keinen Augenblick Ermüdungserscheinungen auf, weder beim Dirigenten noch beim Orchester, das ihm mit höchster Aufmerksamkeit folgte. Und auch das Publikum blieb bis zum Schluss aufmerksam und zeigte trotz der Überlänge des Konzerts keine Unruhe. Nach den letzten Klängen brach dann begeisterter Beifall los, und das Publikum bedachte seinen langjährigen Orchesterleiter mit stehenden Ovationen. Er schien das Pult nie verlassen zu haben, und man kam nicht auf die Idee, hier einen weit über achtzigjährigen Pensionär vor sich stehen zu sehen. Auch der Intendant erkannte die Besonderheit der Situation und übergab den obligaten Blumenstrauß höchstpersönlich an Hans Drewanz.
Frank Raudszus
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