Das Foyer des Staatstheaters Darmstadt wird zur Bühne für Fjodor Dostojewskis Novelle „Weiße Nächte“.
„Neue Besen kehren gut“ – sagt der Volksmund. Das gilt auch für die neue Intendanz des Staatstheaters, in diesem Fall ganz ohne doppelbödige Ironie. Das Schauspiel hat sich ein neues Format einfallen lassen, das für mehr Publikumsnähe sorgen soll. Im Foyer des Großen Hauses hat man einen der beiden Garderobenbereiche temporär zu einer Art „Literatencafé“ umgebaut: Kaffeehaus-Tischchen mit entsprechenden Stühlen, Sesseln, Sofas und sogar Gartenbänken. Dazu eine kleine Bühne mit einer Lampe aus Omas – oder Dostojewskis – Zeit. Das Sammelsurium der Möbel erklärt sich – hoffentlich! – weniger aus dem Kostendruck als aus einer bewussten Absicht, den Eindruck einer Tagesbleibe für arme Literaten zu vermitteln, sozusagen den „Charme der Armut“, in der vor allem im 19. Jahrhundert viele Schriftsteller ihr Leben verbrachten. Denn eben um diese Zeit geht es in Dostojewskis Novelle.
Ein namenloser junger Mann streift nachts einsam durch Moskau. Er leidet unter seiner Einsamkeit, die sich aus seiner ausgeprägten Schüchternheit erklärt. In seiner Ich-Erzählung berichtet er von einsamen Spaziergängen, bei denen er immer wieder die selben Menschen trifft, ohne mit ihnen jemals Kontakt aufzunehmen. Die lange Einleitung dient lediglich dem Zweck, seine im Grunde genommen unfreiwillig mönchische Lebensweise zu schildern.
Eines Abends bemerkt er ein weinendes junges Mädchen, und während er noch überlegt, ob er seine Schüchternheit überwinden und sie ansprechen soll, sieht er, wie ein betrunkener Mann auf sie zutorkelt. Das gibt ihm einen Grund zur Tat, und er bietet dem Mädchen Arm und Schutz an. Die beiden kommen ins Gespräch, er gesteht ihr seine Schüchternheit und Einsamkeit, und sie fühlt sich ihm wegen seiner Hilfe soweit verpflichtet, dass sie einem weiteren Treffen zustimmt. Langsam kommen sich die beiden näher, und nachdem er ihr uneingeschränkt seine fragile und bedrückende seelische Befindlichkeit offenbart hat, erzählt auch sie ihm ihr Leben. Sie lebt bei ihrer Großmutter und wird von dieser sehr eng geführt, ja, geradezu bewacht. Eines Tages zog ein neuer, junger Mieter bei der Großmutter ein, und wie es kommen musste, verliebten sich die beiden jungen Leute ineinander. Als der junge Mann nach Moskau zurückkehren musste, versprach er, nach einem Jahr wiederzukommen und sich bei ihr zu melden. Jetzt ist er wieder in der Stadt, hat sich jedoch noch nicht gemeldet und damit dem Mädchen Grund zum Weinen gegeben.
Der junge Mann, der sich natürlich längst in das hübsche Mädchen verliebt hat, gesteht ihr das aber nicht, sondern spendet ihr Trost und spricht ihr Mut zu. Schließlich willigt er sogar ein, bei seinem Rivalen(!) vorzusprechen und um Klärung zu bitten. Mittlerweile zweifelt jedoch Nastenka, so heißt das junge Mädchen, an der Treue ihres Geliebten und ist bereit, sich auf ihren Freund und Helfer als Lebenspartner einzulassen. Da läuft ihnen unerwartet der alte Geliebte über den Weg und wirft alle Hoffungen des Ich-Erzählers über den Haufen. In seiner schüchternen Selbstlosigkeit erklärt er sich sogar bereit, weiter Nastenkas Freund zu bleiben.
Diese Novelle eignet sich ausgezeichnet für ein kleines Kammerspiel, und die Bühnenfassung bringt die Befindlichkeit der beiden Menschen glaubwürdig zum Ausdruck. Vor allem besticht die Sprache, die den epischen Kosmos der Dostojewskischen Romane auch in der deutschen Übersetzung widerspiegelt. Mathias Znidarec, Mitglied des Schauspielensembles, hat selbst die Textfassung erarbeitet und auch die Regie übernommen. Außerdem spielt er die männliche Rolle dieses Zweipersonen-Stücks. Neben ihm agiert Lena Vogt als Nastenka und sorgt auch gleichzeitig – aus einem schmalen Garderobenschrank heraus! – für die passende und szenengerechte musikalische Untermalung. Im Mittelpunkt der Geschichte steht jedoch nicht das Mädchen sondern der junge Mann, der selbstlos – weil schüchtern – alles für die junge Frau tut, dabei nichts für sich erwartet, vielleicht im Stillen hofft, und der im letzten Augenblick, als sich das Glück einmal auf seine Seite zu neigen scheint, alles wieder verliert. Dass er in diesem Augenblick nicht die Haltung verliert, ist seine größte seelische Leistung. Er wird zwar immer Nastenkas Freund bleiben und auf ihre Sympathie rechnen können, aber ihre Liebe gilt einem anderen Mann.
Das ist eigentlich eine uralte Geschichte und inhaltlich nicht gerade originell. Doch mit welchem psychologischen Feingefühl Dostojewski die Situation und die Personen beschreibt, das zeichnet diese Novelle aus. Trotz der Elemente „Herz“, „Schmerz“ und „Verzicht“ wirkt das Stück keinen Augenblick lang sentimental oder gar kitschig. Das liegt natürlich auch an den beiden Schauspielern, die ihre Rollen überzeugend ausfüllen und auf jegliche Klischees verzichten. Mathias Znidarec spielt den jungen Mann bis in die Fingerspitzen als einen höchst sensiblen und daher schon vorab auf alle möglichen Auswirkungen seiner Worte bedachten Grübler, der sich nach menschlicher Nähe sehnt, sich aber nicht traut, den Panzer der vermeintlichen Unnahbarkeit seiner Mitmenschen zu durchbrechen. Seine emotionale Überfülle kann sich nicht nach außen entfalten und bleibt daher im Gefängnis seiner Gedanken und Ängste gefangen. Lena Vogt verleiht der jungen Nastenka dagegen einen pragmatischen, lebenstüchtigen Zug, der sie bei Bedarf auch gegen die Konvention den ersten Schritt tun lässt. So sehr Nastenka den jungen Mann im Laufe der Zeit zu schätzen – fast zu lieben – lernt, so sehr hängt sie doch an ihrem Geliebten, der offensichtlich eine ganz andere männliche Rolle ausfüllt. Dieses feine Schwanken zwischen zwei möglichen Beziehungen bringt Lena Vogt mit einer bisweilen fast ein wenig melancholischen Zurückhaltung überzeugend zum Ausdruck.
Die Kaffeehausatmosphäre mit ihrer Enge – es fehlen nur noch Rauchschwaden – fördert den engen Kontakt zwischen Darstellern und Publikum. Ganz bewusst schauen die beiden Schauspieler einzelne Zuschauer an, gehen auf sie zu oder scheinen sie um einen Rat anzusprechen, so als seien es Passanten auf der Straße, die mit der komplizierten emotionalen Konstellation unmittelbar konfrontiert sind.
Das Publikum spendete den beiden Darstellern kräftigen Beifall, und es ist zu hoffen, dass dieses Format noch auf andere Stücke ausgeweitet wird.
Frank Raudszus
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