Das Frankfurter Städel-Museum zeigt in der Ausstellung „Phantastische Welten“ Bilder aus der expressiven Phase des frühen 16. Jahrhunderts.
Während des Mittelalters gab es eine klare Vorgabe der Kirche – ob explizit oder implizit, sei dahingestellt – hinsichtlich der Darstellung christlicher Mythen und Heiliger. Dabei hatte die naturgetreue – weltliche! – Abbildung im Sinne eines Bilderverbots im Hintergrund zu stehen, und es war nur eine stark abstrahierende Darstellung der jeweiligen Szene erlaubt. Die Personen zeigten entrückte oder verzückt leidende Gesichtszüge, und die Körper schauten frontal ohne Schattenbildung oder bewusste Körperlichkeit aus dem Bild. Interessanterweise sind die Statuen in den gotischen Kirchen wesentlich naturgetreuer – wenn auch mit jenseitig-sehnendem Gesichtsausdruck – als die bildlichen Darstellungen dieser Zeit.
Gegen Ende des 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts änderte sich die Situation geradezu dramatisch. Das hängt in gewissem Sinne mit der Reformation zusammen, wenn auch ohne unmittelbare Kausalität. Luthers Thesen gegen den Ablasshandel drückten nur die zunehmende Unzufriedenheit mit dem engen geistigen und künstlerischen Korsett der Kirche aus, und das wachsende Selbstbewusstsein der immer wohlhabender werdenden städtischen Bevölkerung mag dabei auch eine wesentliche Rolle gespielt haben.Plötzlich begannen die Künstler, die Heiligen- und Kreuzigungsbilder mit wahrem Leben zu erfüllen. Die handelnden Personen der bekannten Märtyrergeschichten – bei Christi Kreuzigung beginnend – erhielten plötzlich naturgetreue Mimik und Körpersprache einschließlich verschiedener Emotionen wie Wut, Hass, Schmerz, Geiz und Neid. Die ganze Palette menschlicher Befindlichkeiten kam plötzlich auf die Leinwand, und das religiöse Ereignis trat naturgemäß in den Hintergrund. Diese Betonung des Urmenschlichen war jedoch nicht nur eine Rückbesinnung auf das reale Leben, sondern auch eine Kampfansage an die das gesamte menschliche Leben definierende und kontrollierende Macht der Kirche. Kein Wunder, dass die relative Freiheit der Künstler bereits nach wenigen Dekaden mit der beginnenden Gegenreformation endete. Denn bildliche Darstellungen waren vor allem im nun katholischen Bereich der Kirche wichtig, während die protestantische Kirche weniger Welt auf die Ausschmückung von Kirchen legte.
In Deutschland bildete dabei eine Gruppe von Künstlern um Albrecht Altdorfer (1480-1538) den Kern der neuen „Schule“. Neben Altdorfer sind dabei vor allem Wolf Huber (1485-1553), der Passauer Bildschnitzer Meister IP (1490?-1520) und Hans Leinberger (1475?-1531) zu nennen. Diese Künstler zeichneten sich durch eine besonders expressive Darstellungsart aus, die den Rahmen der üblichen realistischen Abbildung wenn nicht sprengte dann jedoch weitete. Von Hass und Missgunst verzerrte Gesichter – vor allem der moralisch fragwürdigen Figuren – sowie dunkle und gefährlich wirkende Menschen- wie Landschaftsdarstellungen gehören zu ihren Markenzeichen. Sie brachen auch die bei Kreuzigungsbildern geradezu obligatorische frontale Symmetrie auf und betrachteten nicht nur den Golgatha-Hügel und die drei Kreuze aus ungewohnten Perspektiven – von unten, von der Seite, von schräg hinten – sondern verliehen den Körpern der Gekreuzigten darüber hinaus durch extreme Verkrümmungen den Ausruck äußerster physischer Qual, ein geradezu blasphemischer Affront gegen das transzendentale Leiden in den herkömmlichen Darstellungen. Die Landschaften erinnern teilweise sogar ein wenig an van Gogh, so etwa eine geradezu expressionistisch verzerrte Trauerweide, die alle menschlichen Ängste enthält, oder eine düstere, unheilvoll wirkende Landschaft.
Die Ausstellung wurde aus dem Bestand des Städels und durch Leihgaben bestückt. Dabei wurden sogar Werke aus dem liturgischen Bereich ausgeliehen, was man durchaus als Verneigung der Leihgeber vor der Bedeutung dieser Ausstellung interpretieren kann. Die Skulpturen, die in dieser Ausstellung reichhaltig vertreten sind, stammen aus dem Liebieg-Haus, das die Schirn und das Städel zum Frankfurter Dreigestirn ergänzt. Die Expressivität der Darstellung wird in den Skulpturen noch wesentlich augenfälliger, weil die Dreidimensionalität der Körper und Köpfe die Wirkung deutlich steigert. Hier hat vor allem der Meister IP nicht nur das Leiden der christlichen Märtyrer sondern die ganze Bandbreite menschlicher Emotionen – von Liebe bis Hass – in bisweilen erschreckender Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht.
Die Ausstellung ist in einer Ebene in verschiedenen Räumen angeordnet, wobei jeder Raum für ein bestimmtes Thema steht, etwa die Heiligen- und Märtyrerdarstellungen, die Landschaftsbilder, die Skulpturen oder den direkten Vergleich mit Werken anderer zeitgenössischer Künstler wie Albrecht Dürer oder Lukas Cranach d. Ä.. Den Auftakt der Ausstellung bildet in einem separaten, abgedunkelten Raum eine Sammlung von Christophorus-Graphiken. Diese Figur bedeutete den mittelalterlichen, durch und durch von der Kirche geprägten Menschen besonders viel, weil nur der Heilige Christophorus vor dem plötzlichen Tod schützen konnte, der – ohne Beichte und letzte Ölung – unter Umgehung des Fegefeuers direkt in die Hölle führte.
Wer sich die Zeit nimmt, diese Ausstellung in Ruhe zu durchwandern, gewinnt aufschlussreiche Erkenntnisse über eine Zeit, die nun schon fünfhundert Jahre zurückliegt und dennoch nichts an Aktualität verloren hat.
Die Ausstellung ist vom 5. November bis zum 8. Februar 2015 dienstags, mittwochs sowie am Wochenende von 10 bis 18 Uhr, donnerstags und freitags von 10 bis 21 Uhr geöffnet. Weitere Informationen sind auf der Webseite des Städelmuseums verfügbar.
Frank Raudszus
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