Eine kreative Schau auf Geschichte, Gegenwart und Zukunft.
Peter Sloterdijk gilt heute als „angesagter“ zeitgenössischer Philosoph, nicht zuletzt, weil er sich eines verständlichen, nahezu unterhaltenden Stils bedient, ohne deswegen an Stringenz und Tiefe des Gedankens zu verlieren, ein Vorwurf, dem sich in Deutschland seit jeher jeder klar schreibende Philosoph ausgesetzt sah. Wer verständlich schreibt, so das Credo vieler Sekundärwissenschaftlicher, kann – leider – von zu vielen Zeitgenossen verstanden werden und lässt es automatisch an Seriosität mangeln. Sloterdijk zieht sich darüber hinaus von Zeit zu Zeit den Zorn der Kritik zu, weil er über Grenzen hinaus denkt und dabei ungeschriebene Tabus verletzt, zuletzt geschehen bei seinen Ausführungen über eventuelle zukünftige „Optimierungen“ der menschlichen Gene.
Im vorliegenden Band betrachtet er die gesamte Weltgeschichte aus einem orthogonalen Begriffspaar heraus – dem erotischen und dem thymotischen Prinzip. Ersteres umfasst dabei weit mehr als die heutige Unterhaltungspresse uns weismachen wollen, nämlich das genießende oder verbrauchende Prinzip, das sich bei den Physikern in der zunehmenden Entropie wiederfindet. Der Thymos jedoch stammt aus dem Stolz und natürlichen Würdegefühl des Menschen, das bei Verletzung zu entsprechenden emotionellen Regungen führt, sprich: zu Zorn. Das thymotische Prinzip achtet nicht materieller Annehmlichkeiten oder der Akkumulation von Besitz, sondern besteht auf der Achtung der persönlichen Rechte und des persönlichen „Reviers“. Das thymotische Prinzip vermindert tendenziell die Entropie, indem es persönliche und gesellschaftliche Strukturen schafft.
Sloterdijk verfolgt das Wechselspiel dieser beiden Prinzipien und vor allem die Wirkung des zornauslösenden thymotischen im Laufe der Weltgeschichte und führt letzteres bis auf den Trojanischen Krieg zurück, wenn er zu Beginn die ersten Zeilen der „Ilias“ zitiert: „Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus“. Achill sitzt zornig in seinem Zelt und verweigert den Kriegsdienst, weil Agamemnon die eigentlich ihm zustehende Beute, die schöne Briseïs, für sich eingefordert hat. Verletzung des Stolzes und Rachegefühle beeinflussen also bereits hier den Kriegsverlauf und damit das geschichtliche Geschehen.
Vom antiken Griechenland schlägt Sloterdijk schnell den Bogen zum christlichen Abendland, in dem die Kirche anfangs missionierte und den reinen Glauben verbreitete, jedoch bald die süßen Früchte der Macht über Menschen zu schätzen lernte. Das Zornpotential der unterdrückten Massen wusste die Kirche geschickt ins Jenseits zu verschieben, damit dem Rachebedürfnis des gepeinigten Menschen gerecht werdend und gleichzeitig für Friedhofsruhe im hiesigen Jammertal sorgend. Dabei geht Sloterdijk ausgesprochen methodisch vor, indem er Sinn und Charakter der Rache als ein Geben im Sinne von Ausgleich der Leiden in der Welt darstellt. Nach der Befriedigung der Rache – und das zeigt jeder Kriminalfilm – sind Rächer und Zuschauer zufrieden. Das Leidkonto ist wieder ausgeglichen. Aus diesem Leidkonto entwickelt Sloterdijk den Begriff einer „Weltbank des Zorns“, das heißt, er benutzt säkular-kapitalistische Analogien, um das Wesen des Zorns verständlich zu machen. Danach ist der Zorn ursprünglich individuell und spontan – siehe Achilles – und entlädt sich auch als solcher. Doch Millionen kleiner Zornausbrüche verpuffen im Wettstreit miteinander und richten sich oftmals auch gegen die „Falschen“, ähnlich wie Geld seinen Wert verliert, wenn es unter der Matratze versteckt wird, oder wie der einfache Tauschhandel nie zu einem stammesübergreifenden oder gar globalen Handel führen kann. So wie die Banken dem Individuum Teile seines Vermögens abnehmen, um es zu verwalten und damit große Projekte zu ermöglichen, können entsprechende „Weltbanken des Zorns“ ebenfalls die Ressentiments der Massen sammeln, kanalisieren und in historische Projekte ummünzen. Von der Kirche war bereits die Rede; sie hat die Zornentgelte zwar eingetrieben, die Rückzahlung aber praktischerweise ins Jenseits vertagt. Der Kommunismus, der laut Sloterdijk nichts anderes als ein säkularisierter Katholizismus ist – Domestizierung des Einzelnen und Verschieben des Heils in eine ferne Zukunft – hat aus dem angesammelten Zornkapital der Massen die Revolution „finanziert“. Mit dem Kommunismus rechnet Sloterdijk denn auch in seiner ironischen und immer leicht sarkastischen Art treffend ab, wenn er schreibt (Seite 291):
„Seit man auf den real nicht mehr existierenden Sozialismus zurückblickt, begreift man die grimmige Pointe der post-kommunistischen Situation: nach 1991 gab es nichts zu begreifen, was für aufmerksame Beobachter des sowjetischen Experiments nicht im Prinzip ab 1918 und Lenins Dekreten über den Roten Terror evident gewesen wäre, für die Sympathisanten der Linksopposition ab 1921, für nervenstarke „Weggefährten“ seit den Säuberungen der dreißiger Jahre, für einäugige Antifaschisten ab 1945, für im utopischen Trotz Verkalkte ab 1956 und für Sonderschüler der Geschichte ab 1968.“ (Zitat Ende).
Dem Kommunismus bescheinigt Sloterdijk noch weitere strukturelle Schwächen. So sei bereits im Russland der 30er Jahre das im vorindustrielll-bäuerlichen Milieu ohnehin nur schwach ausgeprägte „Zornpotential“ – man fürchtete die Schergen des Zaren, lebte aber sonst in einer festgefügten sozialen Struktur – nicht zuletzt aufgrund des Terror-Regimes Lenins und vor allem Stalins – aufgezehrt gewesen. Um die Massen weiterhin im Sinne der Weltrevolution – und der eigenen Machterhaltung! – mobilisieren zu können, musste man neue Feinde definieren und fand sie in den Kulaken und zuletzt in jedem Bauern, der mehr als eine Kuh besaß und nicht am Hungertuch nagte. Unverblümt stellt Sloterdijk fest, dass die Linke unbezweifelbar den Genozid-Rekord hält, wobei er neben Russland (20 Millionen) vor allem auf Maos China verweist, das ebenfalls in Ermangelung ernsthafter äußerer Feinde permanent neue innere Feinde erfand und sie – zuletzt und am schlimmsten in der Kulturrevolution – zu Millionen (50-70!) hinschlachten oder verhungern ließ. In diesem Zusammenhang verweist er auch auf die Lebenslüge aller westlichen Linken, die noch heute diese Tatsachen nicht wahrhaben wollen, verdrängen oder schlicht leugnen (siehe obiges Zitat). Als letztes Zornmanöver zum machpolitischen Überleben fiel laut Sloterdijk den Kommunisten ein über Jahrzehnte durchgehaltener und lautstark propagierter Antifaschismus ein, mit dem sie das Volk unter moralischen Waffen zu halten versuchten, obwohl der einmal real existierende Faschismus längst von der Bildfläche verschwunden war und der Kommunismus längst zum „Linksfaschismus“ mutiert war (ein Begriff, den alle Linken noch heute heftig bekämpfen). Im Jahr 1989 schließlich hatte sich dem Autor zufolge dann auch das letzte Zornguthaben in Luft aufgelöst.
In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass Sloterdijk dem Faschismus deutscher und italienischer Prägung kein eigenes Kapitel widmet, sondern diese nur im Zusammenhang mit dem Kommunismus erwähnt. Das mag an der kurzen Lebensdauer vor allem des Nationalsozialismus (1000 minus 988 Jahre) liegen, dennoch wären gerade die Nazis ein Paradebeispiel für die Sammlung und Bündlung von Zornguthaben gewesen.
Den Schluss seiner Ausführungen widmet Sloterdijk der Gegenwart mit dem Einbruch des Kapitalismus in die ehemals kommunistischen Märkte, der „Erotisierung“ dieser Gegenden – schnell und mühelos reich werden, grenzenloser Konsum – und die Enttäuschung durch die Profanität des Kapitalismus. Über den ehemaligen Ostblock kommt er dann – sozusagen geographisch korrekt – zum Islam, dessen Zornpotential er vor allem aufgrund der fehlenden wirtschaftlichen Perspektiven der muslimischen Länder als sehr hoch einschätzt. Millionen von jungen, tatendurstigen Männern tragen ein riesiges Zornpotential in sich, dass wir im Falle unglücklicher Karikaturen aufblitzen sehen. Da er aufgrund der technologischen Rückständigkeit der muslimischen Welt keine kurzfristige existenzielle Gefährdung des Westens erkennen kann – von spektakulären Terroranschlägen einmal abgesehen -, sieht er lang andauernde und blutige Kriege zwischen den Muslims – Schiiten und Sunniten zeigen dieses schon jetzt im Irak – auf die Welt zukommen und lässt die Frage offen, wie die Gemeinschaft der nicht-islamischen Ländern mit diesem Pulverfass fertig wird.
Neben der rein historischen Aufarbeitung seiner Zornthesen geht Sloterdijk auch auf die psychologischen, soziologischen und philosophischen Hintergründe der Zornwirtschaft ein und liefert dazu eine Reihe von erhellenden Erkenntnissen und Vermutungen, die bei aller logischen Stringenz und Überzeugungskraft dennoch immer einen Schuss Spekulation enthalten. Seine Erklärung der Welt ist eine von mehreren möglichen, in sich geschlossen und bietet vor allem Ansätze zur gesellschaftlichen Reaktion. Hier raunt kein mythischer Untergangstheoretiker oder Seinsphilosoph, hier versucht jemand, die kriegerische Geschichte der Menschheit aus ihr selbst zu erklären. Und das gelingt dem Autor in hervorragender Weise.
Das Buch ist im Suhrkamp-Verlag unter der ISBN 3-518-41840-8 erschienen und kostet 22,80 Euro.
Frank Raudszus
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