Ein Hörbuch über zwei jugendliche Außenseiter.
Zu Beginn dieses Hörbuchs sitzen zwei junge Leute in einer Felsspalte in den französischen Cevennen. Der junge Mann ist dort offensichtlich hineingestürzt, hat sich verletzt und ist bewusstlos; die junge Frau ist ihm gefolgt und weiß nicht, wie sie beide hier je wieder herauskommen sollen. Angesichts der scheinbar hoffnungslosen Situation fängt Billie, die junge Frau, dem ohnmächtigen Franck ihr Herz über ihr Leben und ihre Beziehung auszuschütten, mehr als Monolog denn als wirklicher Versuch, sich Gehör zu verschaffen.
Billie und Franck haben vor Jahren dieselbe Schule besucht. Billie stammt aus einem „Prekariats“-Haushalt, in dem sie schon früh lernen mussten, um das tägliche Brot wenn nicht um das Überleben zu kämpfen. Daher ist sie stets auf der Hut und in Verteidigungsstellung. Sie hat gelernt, dass Angriff die beste Verteidigung ist, und kommt jeder möglichen Diskriminierung oder Abwertung durch Aggression zuvor. Franck ist in einem reaktionären Haushalt aufgewachsen. Der Vater hat es nie verkraftet, dass sein Sohn schon früh deutliche homosexuelle Neigungen zeigte, und straft ihn mit Nichtachtung. Daraufhin hat sich Franck in die innere Emigration zurückgezogen.
Die beiden waren schon als Kinder und Jugendliche derart mit ihren eigenen Problemen beschäftigt, dass sie keine Zeit oder Lust für Beziehungen zu anderen Schülern hatten, und kannten sich daher nur flüchtig. Bis zu dem Tag, als ihre Lehrerin ein Theaterstück mit verteilten Rollen aufführen will. Billie und Franck, die beiden Außenseiter, bekommen wegen ihrer fehlenden Kontakte in der Klasse die Rollen eines jungen Liebespaares zugeteilt, das zwar ineinander verliebt ist, dies aber nicht zugeben will und sich gegenseitig das Leben schwer macht. Am Beispiel dieses Liebespaares zeigt der Autor des Stücks – es könnte Molière sein – die Schwierigkeiten und Missverständnisse, aber auch die Absolutheit und die Macht der Liebe.
Billie wehrt sich anfangs gegen diesen Blödsinn und will ihre Rolle eher durch Passivität „schmeißen“. Doch Franck ist ehrgeizig, möchte sich nicht blamieren und motiviert Billie immer wieder, ihre Rolle anzunehmen und zu lernen. Zum ersten Mal bringt sich Billie, die sonst auch die Schule nur als lästig empfindet, in ein Projekt persönlich ein und übernimmt damit auch zum ersten Mal eine gewisse Verantwortung. Der Ehrgeiz ihres Partners beeindruckt sie, und vor allem seine Bemühungen, ihr das Theaterstück und ihre Rolle nahe zu bringen, verfehlen ihre Wirkung nicht. Zum ersten Mal interessiert sich jemand für sie und das, was sie tut. Diese Erfahrung setzt bei ihr ungeahnte Kräfte frei, und die Aufführung gerade ihrer Szene gerät am Ende zu einem großen Erfolg. Zum ersten Mal ist ihr etwas wirklich gelungen, und das vergisst sie Franck nie. Ein Paar kann aus den beiden wegen Francks Neigung allerdings nicht werden.
Als Franck die Schule wechselt und Billie die Schule verlässt, beginnt für beide ein neuer Lebensabschnitt, der Billie durch alle Abgründe des Lebens bis hin zur Prostitution führt. Doch der Kontakt zwischen den beiden geht nie ganz verloren. Sie treffen sich und ziehen später sogar gemeinsam in eine Wohnung in Paris. Eine Zeit lang gelingt es Franck, Billies Leben Stetigkeit und Struktur zu verleihen, aber nach einem Rückfall von Billie in ihr altes Leben trennen sie sich wieder.
So geht es hin und her, und bei jedem Treffen frischen sie die Erinnerungen an das Theaterstück zwar nicht explizit und verbal aber innerlich auf und stützen sich damit gegenseitig bei der Bewältigung der vielen täglichen Probleme, mit denen sie beide konfrontiert sind. Denn beide haben als Kinder kein normales soziales leben kennengelernt und haben unter diesem Defizit immer wieder zu leiden.
Der Kreis schließt sich, als Franck Billie zu einem Ausflug mit Freunden in die Cevennen überreden kann. Doch die Charaktere in der Gruppe könnten unterschiedlicher nicht sein: hier die stets abwehrbereite und wegen ihrer vielen Verletzungen „auf Krawall gebürstete“ Billie mit ihrem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, und dort snobistische bis reaktionäre Bürgerkinder, die andere gerne ihre Überlegenheit spüren lassen. So bahnt sich die Katastrophe, die in der Felsspalte endet, geradezu zwangsläufig an. Da die Geschichte jedoch als – wenn auch sozialkritische – Komödie angelegt ist, wendet sei sich zum Schluss mit einigen Volten doch noch zum Guten.
Vor allem das Schicksal der Billie rührt in dieser Geschichte: ihr Leiden als Kind und das Fehlen einer normalen Kindheit, aber auch ihr Kampfgeist und ihre Sehnsucht nach Zuwendung und Anerkennung. Mit ihrem verständlichen Misstrauen macht sie sich ihr Leben noch schwerer als es sowieso schon ist, und droht immer wieder in den Strudel eines Teufelskreises zu geraten; doch im entscheidenden Moment ist immer der besonnene Franck da und rettet sie vor dem endgültigen Absturz.
Anneke Kim Sarnau, bekannt aus der Krimiserie „Polizeiruf 110“, liest das Hörbuch mit viel Einfühlungsvermögen für die schwierige Psyche dieses Mädchens bzw. dieser jungen Frau. Sie schafft es damit, all den verlorenen Kindern aus prekären Verhältnissen ein Denkmal zu setzen.
Das Hörbuch ist bei Hörbuch Hamburg erschienen, besteht aus vier CDs und kostet 19,99 €.
Frank Raudszus
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