Monika Siedentopf: „Unternehmen Seelöwe“

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Eine überraschende These über die Rolle der deutschen Spionageabwehr im Zweiten Weltkrieg.

Buchumschlag

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Im Frühjahr 1940 hatten die deutschen Armeen innerhalb von sechs Wochen Belgien, die Niederlande und Frankreich überrannt und die Engländer zum fluchtartigen Verlassen des Kontinents unter Zurücklassung eines großen Teils ihrer Ausrüstung gezwungen. Für Hitler war das der Zeitpunkt, an dem er von England Verhandlungen über einen Waffenstillstand erhoffen und erwarten konnte. Um diese Entwicklung zu forcieren, drohte er öffentlich eine Invasion der britischen Insel an, falls England nicht um einen Waffenstillstand bitten sollte. Wie allgemein bekannt, knickte England nicht ein, doch die Invasion fand dennoch nicht statt, in erster Linie, weil Deutschland nicht über die technischen (seetüchtige Landungsboote) und militärischen (eine schlagkräftige Marine) Mittel verfügte, um ein Heer erfolgreich über den Ärmelkanal zu bringen.

Im Vorfeld der Invasion, die den Decknamen „Seelöwe“ trug, hatte Hitler der Abwehr aufgetragen, umfangreiche Informationen über die Stärke und Aufstellung des britischen Heeres und der Luftwaffe sowie über den allgemeinen militärischen und moralischen Zustand der Briten zu sammeln. Leiter der Abwehr war Admiral Canaris, der nach dem Ende des Ersten Weltkrieg noch stramm monarchistisch und revisionistisch gedacht hatte und den Nationalsozialismus anfangs als Motor für Deutschlands Wiedererstarken und für die Tilgung der Schmach von Versailles  begrüßt hatte. Doch bereits vor Ausbruch des Krieges hatte er durch seine berufsbedingten Informationskanäle den verbrecherischen Charakter der Regierung und ihrer Schutztruppen SA, SS und Gestapo kennengelernt und sich zum entschiedenen Gegner Hitlers gewandelt, was er jedoch aus naheliegenden Gründen nur absolut vertrauenswürdigen Freunden und Bekannten anvertraute.

In seiner Rolle als Leiter sowohl der Auslandsspionage als auch der Abwehr ausländischer Spionage verfügte er selbst bei Hitler gerade wegen des geheimen Charakters seiner Tätigkeit über wesentlich mehr Freiraum als „normale“ Militärführer und nutzte diesen Chance konsequent. Schon früh argwöhnten der Sicherheitsdienst (SD) der NSDAP und die GESTAPO, dass die Abwehr nicht vertrauenswürdig sei, konnten aber keine harten Beweise beibringen. Erst nach dem 20. Juli 2944 geriet auch Canaris in die kompromisslosen Mühlen dieser Organisationen und büßte seinen inneren Widerstand im April 1945 mit dem Leben.

Die promovierte Historikerin Monika Siedentopf hat nun  die Rolle der Abwehr im Zuge der geplanten Invasion in England genauer untersucht und ist dabei zu einem erstaunlichen Ergebnis gekommen. In ihrem Buch beschreibt sie anfangs kurz die oben erwähnte militär-strategische Situation im Sommer 1940 und geht dann auf die Gegenspieler beider Seiten ein. Sie beschreibt  die englischen Dienste MI 5 (Inlandsgeheimdienst und Spionageabwehr) sowie MI 6 mit ihren führenden Persönlichkeiten sowie die Abwehr der Deutschen mit ihrer internen Struktur, den Zuständigkeiten und den Niederlassungen. Schon hier verdeutlicht sie unmissverständlich  Canaris´ Ablehnung des Nationalsozialismus sowie dessen führender Vertreter und zeigt, dass Canaris seine unmittelbaren Untergebenen gezielt nach diesem Kriterium aussuchte.

Im nächsten Kapitel beschreibt sie die Spionageaktivitäten der Deutschen auf der britischen Insel ab dem Sommer 1940. Bis auf einen einzigen Spion werden alle – etwa ein Dutzend – wenige Tage nach ihrer Einschleusung – teils über Wasser, teils über Fallschirmabsprünge – entdeckt und festgenommen. Die Engländer stellen bei den Vernehmungen nicht nur fest, dass die Spione miserabel ausgebildet und ausgerüstet sind – schlechte Englisch- und Landeskenntnisse, teilweise deutsche Ausrüstungsgegenstände – sondern dass sie auch nur über beschränkte intellektuelle Fähigkeiten verfügen. Die Engländer wundern sich über die Unfähigkeit der deutschen Abwehroffiziere, die derart dilettantische Aktionen starten, die denn auch durch die Bank scheitern und mit langen Haftstrafen oder der Hinrichtung der Spione enden. In einem Falle drehen sie sogar einen Spion um und lassen ihn jahrelang wertlose Scheininformationen nach Deutschland funken.

Darauf aufbauend geht Monika Siedentopf detailliert auf die Struktur, die Verantwortlichen und die  Aktionen der deutschen Abwehr ein. Dabei wird schnell klar, dass fast alle Mitarbeiter – zumindest die in führenden Positionen – Regimegegener waren und außerdem eine erfolgreiche militärische und/oder zivile Karriere hinter und zum Teil auch vor (nach dem Krieg) sich hatten. Nicht wenige – auch Offiziere – waren promoviert und hatten in verschiedenen Berufen und Positionen organisatorische und intellektuelle Fähigkeiten gezeigt. Angesichts dieses Zusammentreffens von Intelligenz und politischer Einstellung fällt es schwer zu glauben, es habe sich um unfähige Abwehrmitarbeiter gehandelt. So fällt es Monika Siedentopf denn auchleicht, aus den Ereignissen abzulesen, dass die Abwehr das Unternehmen „Seelöwe“ durch vermeintlich schlechte  Arbeit bewusst sabotiert hat, um den führenden Militärs keine wertvollen Informationen über eventuelle Schwächen oder auch Stärken der Engländer zu liefern. Die Frage, wie sie diese „Schlamperei“ gegenüber der Regierung vertreten konnten, beantwortet die Autorin mit dem Hinweise, man habe erstens als „Geheimbehörde“ eine Sonderstellung gehabt und zweitens habe die Abwehr überzeugend auf den extrem kurzen Zeitraum für die Vorbereitung und Durchführung der Aktivitäten verwiesen.

Nach dem Kriege haben die überlebenden Verantwortlichen der Abwehr in allen Verhören durch die Alliierten Unwissenheit, schlechte Erinnerung und fehlende Zuständigkeiten geäußert. Letztere waren kurz nach dem Krieg auch für die Alliierten nicht immer nachzuvollziehen, und so unterblieben eine systematische Analyse dieser Aussagen sowie die Suche nach strukturellen Widersprüchen in den Aussagen der Betroffenen. Für die englische Abwehr blieb nur die Enttäuschung über derart unfähige Gegner, die sich überdies wenige Jahre nach diesen zentralen Ereignissen an keine Details mehr erinnern konnten. Generell gaben die Deutschen nur das – bereitwillig! – zu, was ihnen bewiesen werden konnte, bei allen weiteren Fragen spielten sie die Karte „Ahnungslosigkeit“. Selbst in seinen umfangreichen Memoiren behandelt eine der Schlüsselfiguren in der deutschen Abwehr die Aktivitäten um „Seelöwe“ lediglich in wenigen, nichtssagenden Seiten.

Bleibt die Frage, warum die deutschen Abwehroffiziere „unisono“  noch nach dem Krieg eine Aktion leugneten, mit denen sie sich bei den Alliierten eigentlich in ein günstiges Licht hätten setzen können. Monika Siedentopf erklärt dies mit verschiedenen Überlegungen. Zum Einen ist es für jeden Offizier, der einmal einen Eid geschworen hat, schwer, diesen Eidbruch sich und anderen einzugestehen. Viel gravierender war jedoch der Umstand, dass noch bis weit in die sechziger Jahre hinein weite Kreise der deutschen Bevölkerung – vor allem ehemalige Offiziere – die Widerständler als Landes- und Hochverräter betrachteten, da sie der kämpfenden Truppe in den Rücken gefallen seien. Die ehemaligen Abwehroffizieren hätten mit einer weitgehenden Ächtung rechnen müssen. Darüber hinaus waren sie sich von vornherein darüber im Klaren – und einige haben das auch während der Operation zum Ausdruck gebracht -, dass sie durch die bewusst verhinderten Informationen über die britischen Fähigkeiten und Maßnahmen bei einer tatsächlichen  Invasion am Tod tausender Soldaten mitschuldig geworden wären. Sie wussten auch, dass man ihnen eben diese „potentielle“ Schuld vehement vorwerfen würde. Darüber hinaus litten einige von ihnen auch darunter, dass sie die bewusst schlecht ausgewählten, ausgebildeten und ausgerüsteten Spione in den Tod oder in langjährige Haft getrieben hatten, auch wenn es sich dabei um Desperados und Kleinkriminelle handelte.

Monika Siedentopf erspart sich am Ende eine Huldigung an die Mitarbeiter der deutschen Abwehr. Ihr geht es um Erkenntnis, nicht um moralische Bewertung. Weder flicht sie ihnen die Lorbeerkränze des Widerstands noch wirft sie ihnen kaltschnäuziges Spielen mit dem Leben der angeblichen Spione und eventuell deutscher Soldaten vor. Sie beschreibt die Aktivitäten, weist auf die Widersprüche von Aussagen und Fakten hin, kontrastiert die nachgewiesenen Fähigkeiten der deutschen Offiziere mit der dilettantischen und geradezu schlampigen Durchführung der Spionageaktivitäten und zieht daraus Schlüsse, die man schwerlich zurückweisen kann. Widerlegen kann man sie nicht, da alle Beteiligten längst gestorben sind, und weitere schriftliche Ausführungen gibt es – derzeit – nicht, da die deutschen Abwehrleute solche Dinge natürlich lediglich mündlich verabredet haben dürften.

Festzustellen ist, dass alle deutschen Abwehrmitarbeiter diesen Plan – wenn er denn tatsächlich so existiert hat – mit höchstem eigenen Risiko ausgeführt haben, denn im Falle einer Aufdeckung wären sie alle hingerichtet worden. Allein dafür gebührt ihnen Anerkennung, sofern die „Schlamperei“ der Abwehr nicht doch durch blanke Unfähigkeit zustande kam.

Das Buch „Unternehmen Seelöwe“ ist im Deutschen Taschenbuchverlag (dtv premium) unter der ISBN 978-3-423-26029-9 erschienen, umfasst einschließlich des umfangreichen Anmerkungteils sowie des Registers 191 Seiten und kostet 14,90 €.

Frank Raudszus

 

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