Spanien in und nach der Krise – eine schonungslose Gesellschaftskritik.
In seinem letzten Roman, „Krematorium„, hatte Chirbes die Hybris des Baubooms in Spanien beschrieben: Umweltzerstörung, Gier und Korruption waren Eckpunkte seiner Schilderung des vermeintlich blühenden Spaniens. Als hätte er das Platzen der Blase in der Finanzkrise geahnt, steckte er bereits in diesem Roman den Keim des Untergangs.
In seinem neuen Roman ist die Katastrophe eingetreten. Er spielt in dem kleinen Ort Olbia irgendwo zwischen Valencia und Alicante. Chirbes hat – wahrscheinlich aus rechtlichen Gründen – fiktive Ortsnamen gewählt, denn die beiden meistgenannten Orte, Olbia und Misent, findet man auf keiner Karte. Nur die Sumpflandschaft Marjal, durch die Intensität ihrer Beschreibung nicht nur eine packende Naturschilderung sondern auch eine fast überdeutliche Metapher der ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse im heutigen Spanien, ist real und erlaubt daher eine ungefähre Verortung des Romans.
Auch in diesem Roman spielt sich die konkrete Handlung an einem Tage ab. Jedenfalls deuten keinerlei literarischen Mittel auf einen mehrtägigen Handlungsverlauf hin. Die eigentliche Handlung spielt sich jedoch in den Köpfen der Hauptpersonen ab und reicht über die Erinnerungen der Protagonisten um bis zu zwei Generationen zurück. Die Hauptperson ist der Schreiner Don Esteban, der in Olbia seit vier Jahrzehnten in der Schreinerei seines Vaters arbeitet, anfangs als Gehilfe, später quasi als Inhaber, obwohl seiner dementer Vater noch lebt. Don Esteban hat sich im Bauboom verspekuliert und sich durch eine zu enge finanzielle Partnerschaft mit einem Baulöwen in die Pleite geritten. Die Schreinerei ist plombiert, er hat alle Angestellten entlassen müssen und wartet auf die Räumungsklage für ihn und seinen senilen Vater, den er mehr aus Pflicht denn aus Neigung persönlich pflegt.
Der Vater hatte im spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Linken gekämpft und dafür später büßen müssen. Drei Jahre im Gefängnis der Franco-Junta hatten ihn zwar abgehärtet, aber auch zu einem desillusionierten Misanthropen gemacht, der selbst zu seinen eigenen Kindern kein emotionales Verhältnis mehr aufbauen konnte. Von seinen Söhnen erwartete er zwar den gesellschaftlichen Aufstieg zum Kunsttischler, leistete ihnen dabei aber keinerlei persönliche Unterstützung, sondern ließ sie sogar ihre angebliche Minderwertigkeit spüren. In dieser Figur kritisiert Chirbes offensichtlich die Selbstidealisierung alter Frontkämpfer des Bürgerkrieges, die in Deutschland in kleinerem Maßstab ja auch von den selbsternannten 68er-„Freiheitskämpfern“ bekannt ist.
Angesichts der desolaten Situation ohne jeglichen Ausweg beginnt Esteban, sein Leben Revue passieren zu lassen. Esteban ist ein typischer Anti-Held. Er hat die Schreinerei stets als Lebensunterhalt betrachtet, nicht als Berufung. Sein Vater war noch beseelt von der Kunsttischlerei, die er selbst im Gegensatz zu seinem Vater nicht beherrschte, konnte sie aber nicht realisieren. So sollten seine Söhne Künstler des Schreinerhandwerks werden. Doch weder der Älteste noch Esteban waren künstlerisch interessiert. Esteban sieht sich selbst in seiner Rückschau nüchtern und ohne jegliche Beschönigungen. Ihn zog es einfach zurück in sein Dorf, und dort erwartete der Vater seine Unterstützung in der Werkstatt. Im Laufe der Jahrzehnte hat Esteban nie handwerklichen oder gar künstlerischen Ehrgeiz entwickelt. Türen aus Pressspan und billige Fenster für Touristenappartements reichten ihm für den Lebensunterhalt. Chirbes beschreibt in Esteban den Archetypus des spanischen Kleinbürgers, der ganz in der familiären Tradition aufgeht und dem der Antrieb zu etwas Neuem fehlt. Da er diese Haltung in die Selbstreflexion der Hauptperson verlegt, gewinnt sie den Charakter der Ehrlichkeit, und Chirbes vermittelt mit diesem Portrait des Durchschnittspaniers sogar viel Sympathie und menschliches Verständnis. Denn Esteban ist bei aller Durchschnittlichkeit ein durch und durch menschlicher Charakter im positiven Sinn. Als er wegen seiner Pleite seine Mitarbeiter entlassen muss, sieht er sich mit ihnen in einem Boot, muss jedoch mit tiefer Enttäuschung zur Kenntnis nehmen, dass sie ihn hauptsächlich als den entlassenden Arbeitgeber betrachten.
Diese Mitarbeiter porträtiert Chirbes mit Monologen, die der Verlag der leichteren Identifizierung halber – die Ich-Perspektive könnte leicht zu Missverständnissen führen – in Kursivschrift setzt. Der Leser weiß dann zwar bald, dass die aktuelle Passage nicht aus Estebans Perspektive stammt, benötigt jedoch zeitweise einige Absätze, bis er aus Namen und Kontext den jeweiligen „Sprecher“ des Monologs identifizieren kann. Das kann man durchaus als literarisches Mittel zu Erhöhung von Spannung und Aufmerksamkeit betrachten.
Die Mitarbeiter sind überwiegend ungelernte Kräfte, die bei Esteban Hilfstätigkeiten geleistet haben, und das teilweise schwarz. Bis auf einen steht ihnen allen der Absturz in die Sozialhilfe bevor, der ihnen die Ernährung ihrer teilweise kinderreichen Familie erheblich erschwert. Auch nordafrikanische Migranten sind darunter, deren latent antiwestliche – d.h. antichristliche – Haltung durch die Entlassung noch verstärkt wird. Ohne ein einziges pathetisches Wort der Anklage äußert Chirbes in diesen Figuren bittere Kritik an der Arbeits- und Bildungspolitik Spaniens, denn gerade ihre mangelnde Qualifizierung lässt diese Arbeiter ins soziale Nichts abstürzen.
Als Kontrast beschreibt Chirbes Estebans Bekanntenkreis. Nach einer leidenschaftlichen Affäre in seiner Jugend hat er nie geheiratet und auch keine dauerhafte Beziehung gepflegt, sondern sich als „Dauersohn“ im Haus seines Vaters kärglich eingerichtet. Die Abende verbringt er mit verschiedenen Männern beimKartenspielen und Trinken, und die Summe dieser Abende lässt Chirbes in Estebans Kopf an diesem einen Abend vorbeiziehen. Die Karten- und Trinkfreunde führen gerne große Sprüche über das Leben, das Geld und die Frauen und lassen dabei im Laufe eines solchen Abends gerne „die Sau raus“. Wer aus dieser Gruppe über Geld verfügt, hat es durch dubiose Machenschaften verdient, etwa durch Ausbeutung von Migranten oder Betrug bei Kundenaufträgen. Esteban weiß dies aus jahrzehntelanger Bekanntschaft, aber man schweigt über diese Dinge, da man niemanden aus dem eigenen sozialen Umfeld denunziert, und sei es nur zum Eigenschutz. Denn in diesem Dorf sind alle voneinander abhängig.
Doch Chirbes´ Schlussfolgerung ist eindeutig: wer in diesen Zeiten ohne besondere Qualifikationen über signifikante Einkünfte verfügt, wandelt an der Grenze wenn nicht weit jenseits der Legalität. Der zynische Grundtenor der Stammtischgespräche spricht dabei Bände, und Esteban ist der einzige, der diesen Zynismus als solchen erkennt und ihn mit innerer Emigration und einer gewissen Resignation beantwortet.
Als Pendant zu dem fleißigen aber ehrgeizlosen und biederen Esteban baut Chirbes den Intellektuellen Francisco auf. An dieser Figur arbeitet der Autor seine bittere, fast ätzende Kritik an dieser Spezies ab. Francisco kommt aus einem einfachen Elternhaus, das es schon früh mit Francos Konterrevolution hielt und dafür nach dessen Sieg im Bürgerkrieg belohnt wurde bzw. sich selbst belohnte. Man übernahm den Besitz der geschlagenen Linken und strich dicke Belohnungen für die Denunziation versteckter Linker ein. Auf diese Weise stieg Franciscos Vater gesellschaftlich wie ein Komet auf, was Francisco in seinen linken Jugendjahren, die er zusammen mit Esteban erlebte, zu einem Rebellen gegen Staat und Vater machte. Doch im Laufe der Jahre, vor allem nach der Wende in den Siebzigern, lernte Francisco, mit seiner Vergangenheit zu leben, vor allem, weil ihm der Name seines Vaters so manche Tür öffnete. Intelligent, wie er war, entschied er sich früh gegen die Politik und wurde zum Gastronomiekritiker und darüber zum Papst der Speisen und Weine. Chirbes prägt an seinem Beispiel den Satz, dass die Ästhetik zur neuen Ethik der intellektuellen Schicht geworden sei. Als Intellektueller wendet man sich von der Politik ab und den ästhetischen Gebieten zu. Das hat den doppelten Vorteil einer Erhöhung der intellektuellen Reputation und der Vermeidung eindeutiger politischer Standpunkte, frei nach dem Motto „politisch Lied – ein garstig Lied“.
Als alter Jugendfreund durchschaut Esteban Francisco bis auf die Knochen, ohne ihn dies spüren zu lassen, da er intuitiv weiß, dass er gegen dessen gesellschaftlichen Status keine Chance hat. Er durchschaut Franciscos angeblich altersbedingte Rückkehr zum Ländlich-Einfachen als die Arroganz des Understatements, die nur zum Ziel hat, auch noch den alten Freunden aus dem Heimatdorf zusätzliche Bewunderung abzuringen. In Franciscos scheinbar nebenher geäußerten Hinweisen auf seinen extravaganten – natürlich eher lästigen! – Lebensstil mit echten Renaissancemöbeln und einer edlen Yacht aus Holz(!) erkennt Esteban intuitiv den Versuch, die Bedeutung, die Francisco in seiner beruflichen Glanzzeit genossen hat, in diesem kleinen Dorf noch einmal wiederzubeleben.
Diese beiden Antipoden verbindet noch ein anderes Element, eine Frau. Estebans temperamentvolle Jugendliebe verließ ihn eines Tages Knall auf Fall, weil sie nicht in diesem Dorf versauern wollte, ging nach Madrid und tat sich dort privat und beruflich mit Francisco zusammen. Da Estebans Affäre mit ihr im Dorf heimlich ablaufen musste, wird nie klar, ob Francisco von dem konkreten Vorleben seiner späteren Frau wusste oder nicht, und Esteban klärt ihn jetzt im Alter auch nicht darüber auf. Die Erinnerung an seine heiße Zeit mit Leonor – so hieß Franciscos mittlerweile längst verstorbene Ehefrau – ist sein letzter Rest von Herrschaftswissen gegenüber seinem Jugendfreund. Dieser lässt sich oft und gern über die Qualitäten seiner ehemaligen Ehefrau aus, wobei er streng darauf achtet, Eigenschaften hervorzuheben, die üblicherweise nicht an Männerstammtischen diskutiert werden und von seinen neu-alten Freunden – hoffentlich – als deutlich jenseits ihres eigenen Horizonts aufgefasst werden. Dass Chirbes Francisco als einzigen nie selbst zu Wort kommen lässt, kann man als bewusstes Verfahren verstehen, das darauf abzielt, die Intellektuellen als nicht eigenständige sondern nur vermittelte gesellschaftliche Gruppe darzustellen. Wichtig ist nicht, wie die Intellektuellen sich selbst sehen sondern wie die Welt sie sieht. In diesem Fall stellt Esteban die „Welt“ dar, und sein Urteil ist – bei aller Altersmilde – vernichtend. Der Archetypus Francisco ist der Narziss in Reinkultur, der auf alle Wohltaten des Lebens einen geradezu selbstverständlichen Anspruch erhebt, sie genießt und anschließend gegenüber denjenigen, die nie auch nur in die Nähe dieser Wohltaten gekommen sind, mit vermeintlich großzügig-bescheidener Geste für null und nichtig erklärt.
Esteban ist jedoch menschliche Rührung nicht fremd. Er, der über Jahrzehnte – von sporadischen Bordellbesuchen abgesehen – wie ein Einsiedler gelebt hat, verliebt sich in seinen alten Tagen, wenn auch halb platonisch, in die Pflegerin seines dementen Vaters. Doch muss er die junge Kolumbianerin nach seiner Pleite ebenfalls entlassen und die unappetitlichen Arbeiten selbst übernehmen. Doch an Liliana hängt er und verfolgt ihr verfahrenes Privatleben mit drei Kindern und gewalttätigem, trinkendem Ehemann mit viel Anteilnahme. Seine aus versteckter Sexualität und echter Sympathie entstandene Zuneigung stößt bei Liliana leider nur auf sarkastische Kommentare, die sie aber klugerweise nicht ihm gegenüber äußert. Nebenbei handelt Chirbes damit auch noch das Migrantenproblem ab und entlarvt geheucheltes Mitleid auf beiden Seiten schonungslos.
Da sich für Esteban und seinen dementen Vater keine irgendwie lebenswerte Zukunft mehr abzeichnet, zieht er die für ihn einzig sinnvolle Konsequenz, bei der das große Sumpfgelände Marjal, in dem er lange Zeit seiner einzigen Liebhaberei, der Jagd, nachgegangen ist, eine große Rolle spielt. Niemand soll Esteban und seinen Vater mehr zur Rechenschaft ziehen können, auch die Geschwister nicht, die im sicheren Fall der Fälle auf eine leere Erbmasse schauen werden.
Das Buch endet mit dem Monolog von Estebans Partner, der ihn in den Ruin gerissen hat, am Flughafen von Barcelona, wo er auf seinen Flug nach Brasilien wartet Dort will er mit dem illegal geretteten Geld ein neues Leben beginnen – wie die Stammtischbrüder in Olbia richtig vermutet haben.
Rafael Chirbes hat mit diesem Roman eine so treffende wie bittere Diagnose einer Gesellschaft verfasst, die den schnellen Aufstieg von der Agrar- zur (vermeintlichen) Industrienation nicht verkraftet hat und jetzt unter den Folgen ökonomisch und moralisch schwer zu leiden hat. Der Schluss des Romans mit seinem unübersehbar metaphorischen Charakter lässt auch keine Hoffnung auf schnelle Besserung zu. Darüber hinaus liefert Chirbes mit seinem Buch eine bittere Liebeserklärung an seine eigenen Landsleute.
Der Roman „Am Ufer“ ist im Verlag Antje Kunstmann unter der ISBN 978-3-88897-867-8 erschienen, umfasst 430 Seiten und kostet 24,95 €.
Frank Raudszus
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