Das Berliner „Maxim Gorki Theater“ inszeniert Anton Tschechovs „Kirschgarten“ als Berliner Migrantendrama.
Als Besucher der Wiesbadener Maifestspiele fragte man sich, warum während dieser Festspiele angesichts der Flut in Frage kommender Theaterstücke gleich zwei Stücke des russischen Autors Anton Tschechov auf dem Programm standen, „Onkel Wanja“ in einer Inszenierung des Wiener Burgtheaters und „Der Kirschgarten“ vom Maxim Gorki Theater in Berlin. Nun, der Besuch der letzteren Inszenierung klärte diese Frage restlos: es war der Kontrast, denn gegensätzlicher können zwei Inszenierungen von Tschechov-Stücken nicht sein.
Tschechov beschreibt in seinen Stücken, zumindest in den beiden hier zur Diskussion stehenden, den Niedergang des russischen Landadels Ende des 19. Jahrhunderts. Die Zeiten der gut laufenden Güter sind vorbei, weil die Industrialisierung, hier speziell der Landwirschaft, an Russland vorbeigegangen war, und weil auf diesen Gütern zu viele Kostgänger die Profitabilität untergruben. Die Gutsbesitzer reagierten nicht mit wirtschaftlichen Maßnahmen, sondern mit einer gewissen Lethargie, der Hoffnung, dass schon alles wieder gut werde, und dem Verkauf der Substanz, um den Lebensstandard zu halten. Tschechov hat zwar kein Mitleid mit der untergehenden Kaste des Landadels, aber die Vertreter der neuen Generation von geschäftstüchtigen Kaufleuten ohne Sentimentalitäten finden auch nicht seine Sympathie. Sie denunziert er gerne – oder sind es eher die Inszenierungen eines ganzen Jahrhunderts? – als gefühl- und kulturlose Kapitalisten, deren dem Westen abgeschautes Geschäftsgebaren nicht zum russischen Wesen passt.
Das Besondere an der vorliegenden Inszenierung fällt bereits beim Studium des Programmzettels auf. Wer sich über die vielen ausländischen Namen in der Besetzungsliste wundert, schaut auf der Webseite des Theaters nach und stellt fest, dass diese Inszenierung bezüglich der Besetzung kein Einzelfall ist. Das Ensemble besteht mehrheitlich aus Schauspielern, die man gemeinhin dem sogenannten Migrantenmilieu zurechnen würden, jedenfalls hinsichtlich der Namen. Da diese Struktur noch nicht einmal den statistischen Durchschnitt Berlins geschweige denn der Bundesrepublik widerspiegelt, muss dahinter eine Philosophie stecken. Man darf annehmen, dass dieses Theater die Integration nicht nur zu einem Programmschwerpunkt sondern zu seinem ureigensten Anliegen gemacht hat. Dabei sammeln sich hier Schauspieler vornehmlich aus Ländern, die gemeinhin als „ausgegrenzt“ gelten. Die türkischen Namen verweisen auf die prekäre Stellung vieler Türken in Deutschland, wie immer man diese auch betrachtet, während Namen mit armenischem Klang wiederum auf das problematische Verhältnis zwischen Türken und Armeniern verweisen. Es liegt also – ausgehend von den Namen – keine reine Frontstellung zwischen Deutschen und Türken vor, sondern ein komplexes Geflecht aus Abstammungshintergründen mit gegenseitigen Aus- und Abgrenzungen. Dabei bleibt dahingestellt, ob diese Konstellation von der Theaterleitung bewusst angestrebt oder sich – ausgehend von einem durchaus migrantisch gestimmten Konzept – mehr oder minder von selbst ergeben hat. Denn diese Schauspieler sind eben nicht bewusst aus ihren Heimatländern geholt worden, sondern sie sind fast alle in Deutschland geboren, sind hier aufgewachsen und haben hier studiert. Und wenn man sie auf der Bühne hört, erinnert höchstens ihr Name und bisweilen ein südländisches Aussehen an ihre Vorfahren.
Bei einem so gezielt zusammengesetzten Ensemble ergibt sich die Zielrichtung der Inszenierungen als logische Folge. So hat Regisseur Nurkan Erpulat denn auch konsequent den Aspekt der Aus- und Abgrenzung in den Mittelpunkt seiner Inszenierung gestellt. Fast zwangsläufig sind die Ranewskaja und ihre Tochter Anja mit den „deutschen“ Schauspielerinnen Ruth Reinecke und Marleen Lohse besetzt, denn nur so ergibt sich ein auch optisch wirksamer Gegensatz zwischen der alten und der neuen Gesellschaft, die sich mittlerweile in der Heimat gebildet hat. Implizit übersetzt Erpulat Tschechovs Plot in ein deutsches, bei dem die Berliner Firmeninhaberin nach jahrelangem Aufenthalt auf Mallorca in das heimatliche Berlin zurückkehrt, um dort feststellen zu müssen, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse radikal verändert haben und sie nicht mehr ihr vertrautes Leben wird führen können.
Während ihrer Abwesenheit hat der Bruder der Ranewskaja, Gajew (Falilou Seck), das Gut heruntergewirtschaftet. Er gefällt sich in der Pose des über den Alltagsdingen stehenden Philosophen, der den schnöden Mammon verachtet, lebt aber dabei gut von dem Geld seiner Schwester, dessen Rest diese derweil in Paris mit ihrem Geliebten durchgebracht hat. Erpulat kleidet ihn in das Kostüm eines „besseren Herrn“ des 19. Jahrhunderts, dicht an der Lächerlichkeit, aber letztlich in seiner selbstzufriedenen Weltfremdheit eine tragikomische Figur.
Die anderen Figuren des Stücks, die während Ranewskajas Abwesenheit das Gut betrieben oder dort gelebt haben, sind in dieser Inszenierung gezielt als Migranten dargestellt, wie man sie heute zum Beispiel in Berlin antreffen könnte. Das beginnt gleich mit einem dramaturgischen Paukenschlag, wenn eine Frau im schwarzen Jibab an ein zentral postiertes Klavier eilt und beginnt, Chopin zu spielen. Der Gegensatz zwischen der islamischen Kleidung und der westlichen, unislamischen Musik könnte deutlicher kaum sein, und verweist sowohl auf die veränderte Situation im heutigen Deutschland – speziell Berlin – als auch auf den Bruch muslimischer Regeln. Um dieses Klavier herum entwickelt sich dann das Personaltableau. Die Stieftochter Warja der Ranewskaja (Sesede Terziyan) kommt als rassige Orientalin im westlichen Gewand daher, während der junge Diener Jascha (Tamer Arsian) das Klischee des türkischen Migranten im Tarnanzug und mit dem einschlägigen Sprachduktus erfüllt. Der alte Diener Firs (Cetin Spekkaya) wird hier zum türkischen Gastarbeiter der ersten Generation, der nur gebrochen Deutsch spricht und seine Umgebung mit endlosen türkischen Tiraden nervt. Die Gouvernante Charlotta dagegen dürfte jeden türkischen Strenggläubigen auf die Barrikaden treiben, stellt der bekannte Transvestit Fatma Souad – oder soll man sagen Transvestitin? – sie doch konsequent als ein Mann-Frau-Wesen dar, das sämtliche Geschlechterrollen auf den Kopf stellt.
Im Mittelpunkt dieser Inszenierung steht jedoch der Kaufmann Lopachin (Taner Sahintürk), der mit allen Mitteln versucht, in die Gesellschaft aufgenommen und anerkannt zu werden, dem Landadel aber nur als schnöder Geldmensch aus niederem Stande gilt und deswegen auf Distanz gehalten wird. Sein weißer Anzug und das Dandy-Hemd zeigen seinen neuen Wohlstand etwas zu aufdringlich, und als er der versammelten Familie den Vorschlag unterbreitet, den geliebten Kirschgarten für Ferienhäuser zu parzellieren, erntet er nur höhnisches Unverständnis. Bei Tschechov mag Lopachin diesen Vorschlag aus rein geschäftlichen Überlegungen heraus unterbreitet haben, bei Erpulat jedoch tut er dies offensichtlich, um der bankrotten Gutsbesitzerfamilie zu helfen. Als er dann bei der Versteigerung das Gut ersteigert, tut er das in den konventionellen Inzenierungen eindeutig aus eigennützigen Gründen. Bei Erpulats Inszenierung hört sich das jedoch ganz anders an. Ohne dass Erpulat den Text geändert hätte, erscheint Lopachin hier fast als ein Wohltäter, der den Kirschgarten gekauft hat, um die Familie zu retten und von ihr endgültig angenommen zu werden. Erst die entsetzte und resignierte Reaktion der Ranewskaja, ihrer Tochter und ihres Bruders jedoch zeigen ihm, dass für sie das denkbar Schlimmste eingetroffen ist: ausgerechnet der Sohn des oftmals verspotteten armen Bauern hat den Kirschgarten übernommen und damit die schöne alte Zeit beendet. Für Lopachin wirkt das wie eine Ohrfeige, und er arbeitet sich entsprechend an dem Bühnenbild ab. Seit der ersten Szene steht mitten auf der Bühne eine Wand, die man mit einiger Phantasie als tapezierte Wohnzimmerwand deuten kann. In seiner Wut über die Zurückweisung reißt Lopachin die Tapete von der Wand, auf der dann alte, überdimensionierte und überlagerte einer großbürgerlichen Festgesellschaft und eines türkischen Festes zum Vorschein kommen, die auch noch seinem wütenden Wahn zum Opfer fallen. Die Metapher ist unübersehbar: der Vertreter der neuen Generation – im übertragenen Sinn etwa ein Kreuzberger mit Migrationshintergrund – reißt die Tapeten von den Wänden der Dahlemer Villa, jedoch nicht aus reiner Zerstörungswut sondern aus der Enttäuschung, immer noch nicht von seiner Wahlheimat angenommen zu werden. Diese Szene ist in ihrer Deutlichkeit die wohl stärkste des ganzen Stücks.
Erpulat nimmt dem Stück darüber hinaus durch verschiedene Regieeinfälle den so bekannten lähmenden Charakter Tschechovscher Provenienz und schärft es in Richtung einer Gegenüberstellung von deutscher Bürgerlichkeit und Migrantenmilieu. Durch den weitgehenden Verzicht auf russisches Zeit- und Lokalkolorit verlagert er die Handlung in die heutigen Zeit und eine unbestimmte aber kaum zu übersehende deutsche Umgebung. Die Beibehaltung der russischen Namen ist lediglich als Reverenz an Tschechov zu verstehen, hat aber mit den Rollen nicht mehr viel zu tun. Die gerade nicht in einer Szene agierenden Schauspieler stellen sich an der erwähnten Wand auf und kommentieren körpersprachlich das Geschehen. Dazu ertönt reichlich Musik auf der Bühne: zuerst Chopin, dann diverse andere Klavierstücke, später singen die Darsteller im Chor deutsche Volkslieder wie „am Brunnen vor dem Tore“, die dann nach Lopachins Kauf des Kirschgartens durch ein türkisches Fest mit Flöte, Trommel und viel Tanz abgelöst werden. Zum Schluss löst auch noch die Pianistin ihren Jibab, und darunter kommt ein junger Mann mit Pudelmütze zum Vorschein, der sofort sein pianistisches Programm auf Jazz umstellt. Auch hier lautet die implizite Botschaft: nichts ist so, wie es scheint oder wie das Vorurteil es vorgibt. Zeitweise nimmt die Inszenierung Revue-Charakter an, vor allem, wenn Charlotta mit im Spiel ist oder wenn die jungen Leute ihre Beziehungsprobleme untereinander ausmachen, die natürlich in ordentlicher Werktreue auch in dieser Inszenierung sämtlich scheitern, soweit sie überhaupt begonnen haben. Am Ende steht Lopachin vor der schönen Marja, die ihn gern zum Mann nehmen würde, und es fehlt nur noch eine mutige Geste, aber Lopachin übersteigt nicht die gesellschaftliche Hürde zur Stieftocher der Gutsbesitzerin, vielleicht weil er ahnt, dass diese Beziehung entgegen allen Lippenbekenntnissen stets als Mesalliance betrachtet werden würde.
Nurkan Erpulat hat Tschechovs Klassiker ordentlich gegen den Strich gebürstet, dabei aber das Kunststück fertiggebracht, das Stück weder zu verunstalten noch für eine bestimmte politische Aussage zu verbiegen. Die Klassengesellschaft war auch bei Tschechov ein wichtiges Thema, nur im melancholischen Gewand und unter der Perspektive des unaufhaltsamen Niedergangs. Erpulat betont zwar auch die Abgrenzungen der „Parallelgesellschaften“ und ihre gesellschaftlichen Folgen, verleiht dem Stück aber auch den Charakter eines urwüchsigen Neuanfangs, der nicht zuletzt von den Ausgegrenzten ausgeht und in eine andere, lebenskräftige Gesellschaft münden könnte. Für diesen steht ein Lopachin, der zwar kurzfristig enttäuscht ist, seinen Aufstieg jedoch unbeirrt fortsetzen wird.
Das Publikum zeigte sich von dieser ganz anderen Tschechov-Interpretation begeistert und spendete langen, kräftigen Beifall.
Frank Raudszus
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