Yasmina Rezas Satire „Drei Mal Leben“ in Darmstadt.
„Sonja rennt“ könnte der Übertitel dieser Rezension ebenso lauten, denn sowohl von Edward Albees Zerfleischung zweier Ehepaare als auch von dem Film mit drei verschiedenen Entwicklungen der selben Ausgangssituation hat dieses Stück etwas „geerbt“. Das Wiesbadener Schauspiel hat das Kammerspiel der Autorin von „Kunst“ inszeniert und am 9. Februar in Darmstadt vorgestellt.
Henri, der Astrophysiker, und Sonja, die Anwältin, wohnen mit ihrem sechsjährigen Sohn in einer kleinen Wohnung. Henri hat drei Jahre lang nichts veröffentlicht, was bei einem Forscher dem wissenschaftlichen Tod gleich kommt, hat jetzt jedoch einen Fachartikel über ein sehr abstraktes Fachgebiet der Astrophysik verfasst, den er in Kürze an eine wichtige Fachzeitschrift einzusenden gedenkt. Um seine Chancen auf eine Beförderung zu verbessern, hat er seinen Vorgesetzten Hubert mit dessen Frau zum Abendessen eingeladen. Dies ist die Ausgangssituation des Stücks.
Das Unglück will es jedoch, dass die Gäste den Tag verwechselt haben und das junge Ehepaar völlig unvorbereitet und ohne Essen im Hause antreffen. Zu allem Überfluss reizt der Sohn die Toleranzschwelle der Eltern durch permanentes Weinen und lautstarke Forderungen nach Essen und Trinken aus.
Die erste Szene präsentiert eine genervte, bis ans Mark kühle Sonja und einen völlig verunsicherten Henri, der dem Schreien des Sohnes nur Hilflosigkeit und Nachgiebigkeit entgegensetzen kann. Man weiß nicht, was Sonja mehr reizt: das Schreien des Kleinen oder die weinerliche Inkonsequenz ihres Mannes. Als es klingelt, müssen sie improvisieren und die Gäste zu Wein und Keksen empfangen.
Nachdem die anfänglich peinliche Stimmung sich etwas gelockert hat, kommt der Abend in Fahrt. Huberts Frau Ines spricht dem Wein mehr als mäßig zu und versucht durch Geplapper die gespannte Atmosphäre zu lockern, als ihr Mann Henri beiläufig erzählt, dass offensichtlich ein anderes Forscherteam einen Artikel zum selben Thema wie er angemeldet hat. Obwohl er diese Tatsache verbal herunterspielt, weiß er genau, dass Henri damit ins Mark getroffen weil wissenschaftlich erledigt ist. Tatsächlich versetzt diese Mitteilung Henri den tödlichen Schlag, und er fällt in der Folge mental buchstäblich auseinander. Hubert genießt seine verzweifelten Bemühungen um Unterstützung, während Sonja das perfide Spiel Hubers schnell durchschaut und diesen frontal angreift. Als dann auch noch Ines unter Alkoholeinfluss ihre zerrüttete Ehe mit Hubert offenbart und Henri schließlich in einer Art Verzweiflungstat Ines angreift, ist der Abend gelaufen, und die Gäste verlassen das ungastliche Haus und den völlig in Verzweiflung verfallenen Gastgeber. Sonja hat alles versucht, ihren Mann vor dem perfiden Hubert zu bewahren, aber seine weinerliche Schwäche konterkariert alle ihre – mutigen – Attacken gegen Hubert. Der Abend endet für Henri im existenziellen Desaster.
In der zweiten Variante erscheint Henri wesentlich gelockerter und Sonja ausgeglichener. Es scheint so etwas wie stilles Familienglück durch, und selbst der Kleine kann die beiden nicht entzweien. Man ist sich mehr oder minder einig, wie man mit dem Geschrei umzugehen hat. Doch bei Huberts Hinweis auf den Konkurrenzartikel beginnt ein ähnliches Spiel wie im ersten Durchgang.
Nun jedoch entwickeln sich die Dinge aggressiver, weil Henri und Ines um die Wette trinken, Ines sich mit Hubert gehässige Wortgefechte liefert, Hubert bei erster Gelegenheit Sonja anmacht, Henri unter Alkoholeinfluss jegliche Contenance verliert und sowohl Ines als auch Hubert bis zur Unflätigkeit beschimpft, da er durchaus die gezielte Absicht von Huberts Worten fühlt aber rational nicht parieren kann. Der Abend endet fast in Tätlichkeiten, die Gäste verlassen nahezu fluchtartig die Stätte des Grauens und werden hier wohl nie wieder einen Fuß hineinsetzen.
In der dritten Variante schließlich zeigt sich Henri als selbstbewusster und fast witziger Zeitgenosse, der die Tatsache einer langen Veröffentlichungspause locker verkraftet hat und jetzt nach vorne schaut. Er hat auch schon von dem fremden Artikel gehört, nimmt diesen aber nicht so ernst, bis er telefonisch erfährt, dass dieser doch eine Gefahr darstellt. Krampfhaft versucht er, weiterhin Optimismus vorzutäuschen, verfällt jedoch zunehmend in eine Depression. Als er mit Ines zu seinem Sohn ins Schlafzimmer geht, fällt Hubert buchstäblich über Sonja her, was dieser gar nicht so unangenehm zu sein scheint. Im Gegensatz zur zweiten Szene, als sie seinen Annäherungsversuchen kühl kalkulierend begegnet, um ihrem Mann Vorteile zu verschaffen, scheint sie hier an dem erotischen Spiel selbst Gefallen zu finden und die Rückkehr der anderen beiden zu bedauern. In dieser Interpretation bleiben die schweren Konflikte unter der Decke, man benimmt sich, selbst Henri in seiner Melancholie, und die Gäste verlassen in gelöster Stimmung das Haus.
Yasmina Reza zeigt in dieser „Studie“, wie leicht sich eine Situation durch Kleinigkeiten – Äußerungen, Stimmungen, Blicke, Berührungen – in die eine oder andere Richtung entwickeln kann. Die ganze Szenerie wirkt wie ein Geflecht von miteinander verspannten Gummibändern, die das ganze Gebilde je nach Belastung zu völlig verschiedenen Formen verzerren können, obwohl es immer die selben Gummibänder sind. Und bisweilen reißen die Bänder auch. Eine Komödie kann man das Ganze kaum nennen, es ist eher satirisch, fast bösartig in der Beschreibung von Enttäuschung, Frust, Kränkung und – ja – Hass. Ist eine emotionale Entwicklung einmal angestoßen, so entwickelt sie sich wie eine Lawine unaufhaltsam zur Katastrophe.
Die vier Darsteller – Iris Atzwanger als Ines, Franziska Geyer als Sonja, Bernd Ripken als Hubert und Lars Wellings als Henri – verleihen der Szenerie Glaubwürdigkeit und konturieren ihre Rollen recht genau. Dabei ändern sich die beiden „Älteren“ – Hubert und Ines – in ihrer Rollen kaum, da sie als Arrivierte ihren Stil durchhalten können, während die beiden Jüngeren, bedingt durch die prinzipielle Unsicherheit der Situation, ein weiteres Spektrum der Selbstdarstellung durchlaufen. Doch gelernt hat am Ende niemand, jeder hat verloren, selbst in der letzten, scheinbar harmonischen Variante.
Das Publikum bedachte die Aufführung und ihre Darsteller mit freundlichem Beifall. Erstaunlich waren nur die Lücken im Zuschauerraum. Das Stück hätte durchaus mehr Zuschauer verdient.
Frank Raudszus
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