Yasmina Rezas „Ein spanisches Stück“ als Gastspiel des Staatstheaters Wiesbaden in Darmstadt.
Die Koinzidenz der Ereignisse springt geradezu ins Auge, bleibt jedoch reine Koinzidenz: einen Tag, bevor in den Darmstädter Kammerspielen Schauspieler Hannsjörg Krumpholz als namenloser Schauspieler eine Tirade über die grundsätzliche Feindschaft zwischen dem Schauspieler und seinem Publikum (und damit auch der Kritik) vom Stapel lässt, hat im Frankfurter Schauspiel ein „echter“ Schauspieler einen „echten“ Kritiker beschimpft und tätlich angegriffen. Fast könnte man meinen, Krumpholzs betont aggressiv vorgebrachte Beschimpfung des imaginären Publikums sei eine ironische Kommentierung des Frankfurter Geschehens. Wer weiß?
Yasmina Rezas Stück jedenfalls stellt den Beruf des Schauspielers sowie seine gebrochene Sicht auf die Welt und deren gebrochene Sicht auf ihn (bzw. sie) in den Mittelpunkt der Betrachtungen. Einmal bringt es der Darsteller Marianos dem Sinne nach wie folgt auf den Punkt: „Der Schauspieler ist nur die Figur, dahinter ist nichts.“ Damit wirft er eine alte Frage auf, die vor allem Nichtschauspieler immer wieder stellen. Wie kann sich ein Schauspieler vollständig und glaubwürdig in die unterschiedlichsten und extremsten Typen verwandeln, sich buchstäblich in deren Haut versetzen und im nächsten Moment, nach der Vorstellung, wieder ein „normaler“ Mensch sein, der über seine Kinder oder seine Hypothekenraten spricht und zum Discounter einkaufen geht? Der Zuschauer assoziiert die Darsteller gerne mit ihren Rollen und behält unterschwellig diese Gleichsetzung auch über die Aufführung hin aufrecht, da er im Alltagsleben gewohnt ist, Menschen nach ihrem Auftreten einzuschätzen und unterschwellig in bestimmte Kategorien einzuordnen. Vor allem bei auf bestimmte Typen – Bösewicht, Witzbold, Zyniker – festgelegten Darstellern liegt diese Gleichsetzung besonders nahe und ersetzt irgendwann den Menschen durch seine Rolle. Nicht umsonst haben ältere Damen in den 80er Jahren im Glottertal nach Professor Brinkmann gefragt…….
Yasmina Reza nun nimmt dieses Künstler-„Biotop“ aufs Korn und seziert es genüsslich und auf die ihr eigene ironische und treffsichere Art. Pilar, Witwe und Mutter zweier Schauspielerinnen, hat sich im etwas reiferen Alter mit dem Hausverwalter Fernan liiert. Fernans Beruf stellt natürlich den absoluten Gegenpol zur Mimenbranche dar: hier kollidiert das – vermeintlich – bohemienhafte Ego der Künstler mit der Biederkeit und Selbstzufriedenheit des in Zahlen und Regeln lebenden Kleinbürgers. Fernan lebt diese Rolle auch, ist sozusagen im Stück selbst sein eigener Darsteller, ohne es zu wissen. Sein Darsteller Benjamin Krämer-Jenster wiederum tritt als zwischengeschalteter, wie im Falle Marianos namenloser, Darsteller auf, der zu Beginn dem imaginären wie realen Publikum in zurückhaltender Eitelkeit seine Fähigkeiten und Stärken mitteilt. Wunderhübsch dann die kleine Liebesszene zwischen ihm und Pilar, bei der sie alle Register der spät entflammten und zwischen Genierlichkeit und erotischer Emphase schwankenden Frau zieht und er einen etwas überforderten Vorruhestands-Casanaova gibt.
Pilars Töchter leben seit Jahren in einem schwesterlichen Scheinfrieden. Die jüngere und wesentlich attraktivere Nuria attestiert ihrer Schwester öffentlich das größere Talent und kokettiert vor sich und der Welt mit ihrem angeblich nichtssagenden Äußeren. Ihre Schwester Aurelia wiederum lebt neben einem zum Alkohol neigenden Mathematiklehrer dahin und bemüht sich, ihren Neid und Lebensfrust mit vorgetäuschter Großmütigkeit zu kaschieren. Doch die Mundwinkel verraten die wahre Befindlichkeit der erfolglosen Schauspielerin. Mit ihr betritt das Stück eine weitere Ebene der Selbstreferenz, denn sie übt mit Hilfe ihres Mannes Mariano ein Zweipersonenstück, in dem sie eine in ihren unbegabten Schüler verliebte Klavierlehrerin spielt. Diese Lehrerin investiert ihr gesamtes emotionelles Kapital in das Klavierspiel mit dem Mann und hofft vergebens auf eine Reaktion. Die Schauspielerin Aurelia identifiziert sich vollständig mit dieser Rolle, geht in ihr auf, weil sie sich selbst in ihr wiederfindet: ungeliebt und vom Leben ungerecht behandelt. Beide Töchter führen einen Kleinkrieg, den Nuria aus sicherer Position sozusagen mit dem Florett und per Distanz führen kann, während Aurelia als naturgemäß Unterlegene immer wieder unerlaubte Ausfälle startet. Doch auch Nuria fühlt sich nicht sicher, weiß sie doch um die Bedeutung ihres Aussehens und ist immer in Furcht vor der Vergänglichkeit des Aussehens und des Erschlaffens der Gesichtshaut. Daher nutzt sie auch jede Gelegenheit, um ihrer Schwester einen kleinen, fast nur für diese spürbaren Seitenhieb zu verpassen. Als gemeinsames Opfer haben sich beide Töchter die Mutter ausgesucht, der sie die späte Liebe zu Fernan nicht gönnen. Schließlich hat eine Mutter nur für die Kinder da zu sein und keine eigenen Bedürfnisse zu entwickeln, schon gar nicht erotische. Das ist einfach unpassend und peinlich! Wir alle kennen diese Gefühle aus unser eigenen Kindheit. Uns so macht man der Mutter den extra für das Familientreffen eingekauften Kuchen madig (eingefroren!), nur, um ihn dann doch gierig zu essen, oder macht sich über Fernan mit vordergründig „netten“ Äußerungen lustig, bis dieser irgendwann ausrastet. Denn Fernan leidet unter dem typischen Komplex des ressentimentgeladenen Kleinbürgers gegenüber dem vermeintlichen Glamour der Bühnenwelt. In endlosen Tiraden versucht er jedem, der es nicht hören will, seine Bedeutung als Hausverwalter und seine große Verantwortung näher zu bringen. Sein liebstes Opfer ist dabei Mariano, der diese endlosen Ausführungen dank Dauerkonsum von Sekt mit kleinen, roten Augen und eher in Trance übersteht.
Eine wirkliche dramatische Entwicklung gibt es in diesem Stück nicht. Pilar und Fernan sind trotz all der Sticheleien am Schluss immer noch genau so glücklich zusammen wie am Anfang, Aurelia hat trotz einer zwischenzeitlichen schweren Panikattacke, bei der sie förmlich zusammenbricht, ihren trinkenden und über das Leben räsonnierenden Ehemann immer noch nicht verlassen, weil er sie und sie ihn braucht, und Nuria flattert einem Rendezvous mit einem Hollywood-Schauspieler entgegen, ohne deswegen Glück auszustrahlen. Sie ist zwar der dynamische Kobold in dieser Familie, der immer wieder für frischen Wind sorgt und Tabugrenzen überschreitet, aber glücklich ist auch sie nicht. Hinter ihr steht die unbarmherzige Maschinerie des „Showbusiness“, das seine Mitglieder schneller ausspuckt als es sie aufnimmt. Nuria lebt sozusagen permanent „auf Abruf“, und daraus erklärt sich auch ihre aufgedrehte, fast hektische Betriebsamkeit. Herrlich die Szene mit den beiden Kleidern für ein bevorstehendes Filmfestival, die besonders dem männlichen Teil – im wahrsten Sinne des Wortes – des „echten“ Publikums gefallen haben dürfte. Am Ende haben wir eine selbstreferenzielle Bestandsaufnahme des Schauspielermilieus auf verschiedenen Ebene erlebt, die zwar „offiziell“ auf der Ebene der fiktiven Darsteller des „spanischen Stücks“ endet, aber in Wirklichkeit bis zu den „echten“ Darstellern des Staatstheaters Wiesbaden und dem „echten“ Publikum dieses Abends reicht. Dabei verliert sich die Grenze zwischen Darstellern und Zuschauern, die Darsteller treten kurzfristig aus sich heraus und auf die andere Seite, kehren dann jedoch zu sich zurück, da sie zum Spielen verdammt sind, und die Zuschauer erkennen, dass auch sie als Darsteller in ihrem täglichen „deutschen Stück“ agieren.
Im fünfköpfigen Ensemble des Staatstheaters Wiesbaden überzeugen vor allem die Frauen, allen voran Monika Kroll als sperrige Aurelia und Rosemarie Schubert als lebensmutige aber entnervte Mutter. Katharina Waldau spielt eine herrlich verrückte und gespielt-naive Nuria, Hanns Jörg Krumpholz gibt den unter der eigenen Schwäche leidenden Mathematiklehrer Mariano mit viel Verve und konnte selbst bei der Entgegennahme des Beifalls die vom Lebensfrust erschlaffte Physiognomie nicht beleben. Benjamin Krämer-Jenster schließlich kommt als jovialer und allzeit um Ausgleich Vernunftmensch daher, der seine Unsicherheiten durch Händereiben überspielt.
Das Publikum bedachte diese treffende und so manchen im Halse stecken bleibenden Lacher provozierende Komödie sowie ihre Darsteller mit lang anhaltendem, mehr als freundlichem Beifall.
Frank Raudszus
Alle Fotos © Martin Kaufhold
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