Yasmina Rezas Dekonstruktionskomödie „Der Gott des Gemetzels“ im Münchner Residenztheater.
Ein bekanntes Beispiel für die Chaos-Theorie ist der berühmte Schmetterling, dessen Flügelschlag irgendwo in China eine weltumspannende Katastrophe auslösen kann. Überträgt man diese Theorie vom global-physikalischen in den lokal-psychologischen Bereich, so landet man bei der Suche nach Beispielen fast zwangsläufig bei Yasmina Reza. Sie ist die Expertin für zwischenmenschliche Prozesse, die sich aus minimalen Asymmetrien und Reibungen mit unerbittlicher Konsequenz zu kathartischen Katastrophen auswachsen. Nach „Kunst“ und „Dreimal Leben“ hat sie jetzt wiederum Edward Albees Konstellation als Ausgangssituation gewählt: zwei Ehepaare treffen sich aus einem scheinbar harmlosen Anlass und „dekonstruieren“ anschließend sich und ihre Ehen systematisch.
Diesmal geht es nicht um moderne Kunst oder um den existenziellen Wert wissenschaftlicher Veröffentlichungen, sondern um die lieben Kleinen. Der elfjährige Sohn von Annette und Alain Reille hat dem Sprössling von Véronique und Michel Houillé mit einem Stock zwei Zähne ausgeschlagen und ein blaues Auge verpasst. Véronique und Michel haben daher die Reilles eingeladen, um über den Vorfall zu reden. Als abgeklärte, gebildete und allen Aggressionen abgeneigte Erwachsene bescheinigen sie sich gleich zu Beginn gegenseitig ihre Toleranz, Abneigung gegen jegliche Gewalt und den Bagatellcharakter des Vorfalls. Doch schon nach wenigen Minuten schälen sich unter den friedfertigen und bürgerlich-abgeklärten Feststellungen die jeweiligen Charaktere und zunehmend archetypische Strukturen heraus.
Véronique ist das lebende Beispiel einer politisch korrekten Frau. Gleich zu Beginn zeigt sie verbale Großzügigkeit und deutliche Distanz gegenüber irgendwelchen Rachegefühlen. Sie scheint die Situation zu beherrschen, und das Gespräch steuert auf einen schnellen friedlichen Schluss zu. Ihr Mann Michel bemüht sich geradezu angestrengt, eventuelle Missverständnisse oder gar Verstimmungen im Keime zu ersticken, indem er schon von sich aus Argumente zugunsten des kleinen Übeltäters findet und geradezu um die Sympathie von dessen Eltern buhlt, was seine Frau nicht wenig irritiert. Auf der anderen Seite versuchen die Reilles, eventuellen Vorwürfen von vornherein durch eifrige – aber wohlfeile – Verurteilungen ihres Sohnes („so sind sie halt, die kleinen Wilden“) zuvorzukommen. Doch während der Harmoniemensch Michel auf der einen Seite die Verbeugung vor den Reilles ein wenig zu tief gestaltet, brodelt es in dem Alphatier Alain von Beginn an, und nur die vorher mit seiner Frau abgesprochenen Sprachregelungen hindern ihn daran, seine Macho-Instinkte auszuleben. Dafür reagiert er diese am Handy ab, das ihn laufend aus dem Gespräch reißt. Als Justitiar einer großen Pharmafirma hat er gerade das Problem mit einem nicht nebenwirkungsfreien Medikament zu lösen, das in den Medien Wellen schlägt. Eine glänzende Gelegenheit, am Telefon seine Eloquenz und Skrupellosigkeit als Vertreter der Interessen seines Arbeitgebers zu zeigen. Die Demütigung des Besuchs bei den Eltern des geprügelten Kindes kompensiert er durch besonders forsches Auftreten am Telefon. Damit zeigt er seinem direkten Gegenüber einerseits seine Wichtigkeit im „richtigen“ Leben und andererseits seine Nichtachtung dieser lächerlichen Veranstaltung.
Auf der anderen Seite passt Véronique die taktisch richtige Büßerhaltung der Familie Reille nicht, weil sie diese intuitiv als eben nur taktisch erkennt. Ihre politische Korrektheit – sie setzt sich für Afrika ein und schreibt ein Buch über die Darfour-Tragödie – erweist sich zunehmend als kaschierte Ideologie mit totalitärem Anspruch. In ihrer Welt muss nämlich jedes Unrecht auf deutliche Weise gesühnt werden, was bedeutet, dass der Übeltäter öffentlich zu Kreuze kriecht und um Vergebung bittet. Ihre politische Korrektheit stellt sich schleichend als eine Selbstaufwertung heraus, die mit der Unangreifbarkeit des moralisch richtigen Standpunkts rechnet und sich dessen Vorteile zunutze macht. Die schnelle, fast saloppe Entschuldigung der Reilles kann ihr nicht genügen, da sie dadurch um die ihr zustehende moralische Erhöhung kommt. So fordert sie also im scheinbar bereits befriedeten Zustand Genugtuung und provoziert damit – gewollt? – den Macho in Alain, der jetzt zum Gegenschlag ausholt. Erst nur verhalten, dann unter Aufgabe aller Vorbehalte schleudert er ihr seine Sicht der Dinge – eine vorangegangene Beleidigung seines Sohnes durch den der Houillés – ins Gesicht, und jetzt gewinnt die Eigengesetzlichkeit der Handlung Überhand. Ein Wort gibt das andere, Annette ermahnt ihren Mann um Mäßigung und erntet dafür seine aggressive Reaktion. Michel erkennt plötzlich in der Strategie seiner Frau eine Lücke und erhebt sein Haupt. Offensichtlich hat er seit Jahren unter der unangreifbaren moralischen Überlegenheit seiner ach so korrekten Frau gelitten, ohne die psychologischen Strukturen dahinter erkannt zu haben. Stets hat er seine Sicht der Dinge herunterschlucken müssen und sich der Meinung seiner Frau anschließen müssen, weil er entweder kein Gegenargument wusste oder – schlimmer – den offenen Konflikt scheute. Nun sieht er plötzlich in Alain Reille einen unerwarteten Bundesgenossen, der die Bastion seiner Frau erschüttert, und läuft mit fliegenden Fahnen zu ihm über.
In der Zwischenzeit ist Annette immer schweigsamer geworden, zeigt Anzeichen von Übelkeit und übergibt sich schließlich in hohem Bogen über den Tisch, die edlen Kunstbände des bürgerlichen Haushalts und den Anzug ihres Mannes. Dramaturgisch gibt es keinen Anlass für diese eruptive Übelkeit, und so ist sie wohl nur als symbolische Maßnahme der Autorin zu deuten: das Kotzen als Sinnbild für die unreflektierten verbalen Auslassungen der Protagonisten, die sich bei der Argumentation – so man es noch so nennen kann – zunehmend aus tieferen Regionen ihres Seelenlebens bedienen. Annettes physische Ent-Äußerung entspricht den verbalen der anderen Protagonisten. Das Kotzen zieht sich recht lange durch die Szene, wird fast zum „Running Gag“ und provoziert genau die Reaktion, die eigentlich nicht beabsichtigt war: Gelächter über den Slapstick auf der Bühne.
Die Szene steigert sich jedoch noch. Nach Alains zehntem oder zwölftem Telefonat mit seiner Firma schnappt sich seine nun von Mageninhalt und Rede- wie Handlungsblockade befreite Frau das Handy und versenkt es in der Blumenvase. Gemeinsam versuchen der entsetzte Alain und der so hilfreiche wie solidarische Michel, das Telefon mit Handtuch und Föhn wieder in Gang zu bringen, doch umsonst. Von Stund an schweigt Alain, um Handy und Handlungsmacht gebracht, am Bühnenrand. Der Rest ist zwar nicht Schweigen, sondern männerhassende Frauensolidarität zwischen Véronique und Annette, gnadenloser, bis zur Tätlichkeit gehender Ehekrach zwischen Michel und Véronique und schließlich allgemeine Erschöpfung. Zwei Ehen und verschiedene Selbstverständnisse liegen, fein säuberlich in ihre Einzelteile zerlegt wie ein zerstörtes Handy, auf den Bühnenbrettern, und die Beteiligten starren zum Schluss stumm und stumpf ins Publikum.
Yasmina Reza hat in diesem Stück die Brüchigkeit emotioneller Bindungen und gesellschaftlicher Normen offengelegt. Mit gnadenloser Konsequenz und geradezu diabolischem Witz führt sie die Eitelkeiten, die Egozentrik und Überlegenheitsgefühl wie -bedürfnis jedes Einzelnen vor. Die zwischenmenschlichen Bindungen, selbst in der engsten aller möglichen Bindungen, der Ehe, stehen immer an zweiter Stelle hinter den ganz persönlichen Zielen und Begierden. Véronique trägt ihre politische Korrektheit als Unfehlbarkeit vor sich her genauso wie Alain seine berufliche Position. Annette und Michel sind die jeweiligen Opfer herrschsüchtiger und egozentrischer Partner und weichen als jeweils Schwächere in Anbiederung oder Zynismus aus, bis der zunehmende psychische Druck diese Schutzhaltung sprengt und den ganzen seelischen Müll buchstäblich auf den Tisch kippt.
Regisseur Dieter Dorn lässt das Stück konsequent ohne Pause durchspielen und hält damit bis zum Schluss die Spannung. Sybille Canonica gibt eine Véronique, die lange die gute Gastgeberin spielt und nur langsam ihre ideologische Grundstruktur offenlegt, die dann aber verbissen um ihre Selbstsicht kämpft. Michael von Au steht als ihr Ehemann Michel unter dem Dauerstress des unterdrückten Partners, der jedoch zum Aufruhr zu ängstlich ist. Jede seiner Gesten drückt seine ganze Lebensangst und Unsicherheit gegenüber der Umwelt und vor allem seiner Frau aus, und geradezu mit Begeisterung wirft sich dieser Michel dem vermeintlichen Bundesgenossen Alain an den Hals. Stefan Hunstein spielt diesen als arrogantes A…… mit vordergründig gutem Benehmen, das er aber jederzeit abstellen kann, wenn andere Prioritäten – Telefonate – es verlangen. Im Grunde genommen interessiert diesen Alain nichts außer seine eigene Person und seine Karriere. Selbst seine Frau ist nur mehr oder minder angenehmes Accessoire seines Lebens. Hunstein bringt diesen Typus überzeugend zum Ausdruck. Sunnyi Melles schließlich bleibt als Ehefrau des Machos lange im Hintergrunde, übt sich in ehefräulichen und mütterlichen Demutsgesten, bis ihr buchstäblich die Galle überläuft und sie nicht mehr zu halten ist. Neben dem allein praktisch schwer umzusetzenden Dauererbrechen ist vor allem ihr Umschlagen in den blanken Zynismus und die weibliche Wut auf die Männer hervorzuheben, die sie in der zweiten Hälfte geradezu zur Furie werden lässt.
Bleibt noch das Publikum zu erwähnen, das teilweise den Eindruck erweckte, es sei irrtümlich in diese Aufführung geraten. Der geradezu abgründige „Witz“ vieler Szenen wurde als Situationskomik wie in einer landläufigen Boulevard-Komödie mit herzlichem, fast schenkelklopfendem Gelächter quittiert. Das lässt nur den Schluss zu, dass eine Reihe von Zuschauern das Stück missverstanden oder als Parodie auf den eigenen, gar nicht mehr als dramatisch empfunden Alltag aufgefasst hat. Lachen im eigentlichen Sinn des Wortes kann man bei diesem Stück eigentlich nicht.
Frank Raudszus
Alle Fotos © Thomas Dashuber
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