Ein metaphorische Überhöhung des Steuersystems.
Zweifellos gibt es eine Fülle von trockener Fachliteratur über die internationalen Steuersysteme, vor allem das US-amerikanische. Doch bisher hat noch kein Schriftsteller dieses Thema in den Mittelpunkt eines Romans gestellt. David Foster Wallace, der früh verglühte Stern am Himmel der amerikanischen Literatur des ausgehenden 20. Jahrunderts, hat gerade dieses scheinbar staubtrockene Thema in den Mittelpunkt seines unvollendet gebliebenen Romans „Der bleiche König“ gestellt.
Wallace gehört nicht zum herkömmlichen Genre des Roman-Schriftstellers, der spannende Geschichten, psychologische Thriller oder gar moralische Anklagen gegen eine wie auch immer schlechte Welt verfasst. Wallace stammt aus der akademischen Welt, war hochbegabt auf den Gebieten der Mathematik und der Sprache und lehrte „Creative Writing“ an einer Universität, bevor er sich 2008 im Verlauf eines depressiven Schubes im Alter von 46 Jahren das Leben nahm.
Man kann annehmen, dass Hochbegabte über ein besonders fein ausgebildetes Sensorium für bestimmte Arten von sinnlichen und intellektuellen Reizen verfügen. Die hohe Empfänglichkeit für solche Reize und deren schnelle Verarbeitung können zu einer Überforderung des geistigen Apparates führen. Wir normal Begabten blenden vieles einfach aus – aus Desinteresse und mangelndem Verständnis -, der Hochbegabte erfasst und versteht dagegen wesentlich mehr. Diese dauernde Überforderung kann durchaus bereits im Kindesalter zur Depression führen, da der Organismus mit der Menge der Eindrücke nicht mehr fertig wird.
Diese Vorbemerkung erscheint gerade im Licht des vorliegenden Romans wichtig, denn dieses Buch strotzt geradezu vor Einzelheiten. Neben den zahlreichen Protagonisten stellt Wallace den Lesern noch das Wesen und die inneren funktionalen Abläufe des amerikanischen Steuersystems IRS (Internal Revenue System) vor. Das geschieht jedoch nicht aus einem fachlichen oder gar aus einem moralisch bewertenden Impetus heraus, sondern aus der Faszination, die dieses System offensichtlich auf Wallace ausgeübt hat. Er hat mit dem Blick des Hochbegabten die Eigenarten und Eigengesetzlichkeit des Systems und vor allem dessen metaphorischen Charakter intuitiv erkannt, und die detaillierten Schilderungen der Abläufe im IRS sowie der dort beschäftigen Menschen gehen weit über eine sachliche Schilderung hinaus.
Der Roman besteht aus zwei Teilen, wobei es letztlich unklar ist, ob der Autor das so geplant hatte, denn der Herausgeber musste den Roman aus einem fast unübersehbaren Bestand aus teilweise unzusammenhängenden Texten sowie vielerlei, teilweise handschriftlichen Notizen und Entwürfen erst zusammensetzen. Aus Unkenntnis der Dokumentenlage muss der Leser annehmen, dass der Herausgeber dies nach bestem Wissen und Gewissen getan hat. Der erste Teil besteht – nach einer einleitenden Schilderung einer Fahrt mehrerer IRS-Angestellter über eine verstopfte Autobahn zur regionalen Zentrale der IRS – aus einer Reihe von scheinbar unzusammenhängenden Biographien, die teilweise keine Namen enthalten oder satirische Züge tragen. Man merkt diesen novellenartigen Beschreibungen den Laborcharakter einer frühen Schreibphase an, in der die Integration in das Gesamtwerk noch zweitrangig ist. Dazu gehören die Lebensgeschichte eines altklugen und übermenschlich altruistischen Schülers, der nicht nur bei seinen Mitmenschen, sondern auch beim Leser Aggressionen weckt. Eine andere Geschichte berichtet von der traurigen Jugend einer jungen Frau, die in einem heruntergekommenen Wohnwagen mit einer asozialen Mutter aufwächst. Im zweiten Teil werden dann diese Jugendgeschichten den verschiedenen Mitarbeitern des IRS zugeordnet, und es schält sich langsam ein personelles Tableau heraus, in dem die Jugendgeschichten die Charaktere der jeweiligen Personen erklären.
Wallace nimmt in verschiedenen „Kernblöcken“ des Romans – mal als Jugendbiographie, mal als „Echtzeit“ des Romans – die ihn bewegenden Themen der US-Gesellschaft ins Visier. In einem über hundert Seiten gehenden Rückblick lässt er die nachpubertäre Jugend eines Mitarbeiters Revue passieren, der in den siebziger Jahren der Gegenkultur in Form von Drogenkonsum und Apathie frönt und das ziellose Abhängen nach zwei abgebrochenen Studien noch zu einem philosophischen Nihilismus hochstilisiert. Sein Vater ist der Gegenentwurf eines pflichtbewussten, leistungsorientierten Konservativen, der aus Geldmangel nicht studieren konnte und seine Familie mit einem ungeliebten Verwaltungsjob ernährt. Dieses Kapitel ist eine der beeindruckendsten Darstellungen dieser Epoche in der US-amerikanischen Gesellschaft.
Ein anderes Kapitel stellt den Dialog einer narzisstischen Frau mit einem kopfgesteuerten Beinahe-Autisten dar, mehr ein verzweifelter Monolog der Frau als ein wirklicher Dialog, in dem sie den mundfaulen Logiker, der sie als einziger offensichtlich nicht begehrt, zu einer spontanen emotionalen Reaktion verleiten will. Hier geraten zwei Archteypen des Geschlechtermodells in einem psychischen Titanenkampf aneinander, wobei auf subtile Weise um jeden Zentimeter intellektuellen Bodens gekämpft wird.
Mit einem besonderen Schachzug sprengt Wallace die Form des Romans. Nicht nur, dass er einer Person seinen eigenen Namen verpasst und diese unverblümt als sich selbst, den Autor, vorstellt: er widerspricht sogar ausdrücklich dem Verdikt der Metadaten des Romans, in dem der Verlag verlauten lässt, dass „die in diesem Buch beschriebenen Figuren und Ereignisse fiktiv“ seien. Durch diesen konkreten Widerspruch aus dem – fiktiven – Inneren des Romans schafft er eine besondere Ebene der Selbstreferenz, die die Grenze zwischen Fiktion und Realität verschwimmen lassen. Sich selbst, dass heißt die Romanperson David Foster Wallace, lässt er dabei durch die Einführung eines Namensvetters in einen schweren Identitätskonflikt geraten, der sich vordergründig zur tragikomischen Posse entwickelt, auf einer anderen Ebene aber die Frage nach der Identität des Menschen stellt, vor allem im Umfeld einer durchorganisierten, administrierten Welt.
In die gleiche Richtung geht auch der Grundkonflikt der IRS, in der einfache Steuerprüfer tagein, tagaus unter Aufbietung aller Konzentration die stumpfsinnige Prüfung der einlaufenden Steuererklärungen auf Unstimmigkeiten vornehmen müssen. Langeweile ist der größte Feind und die größte Herausforderung gleichzeitig, und höchstes Ziel aller Vorgesetzten ist es, die Motivation und Konzentration der Steuerprüfer zu erhalten oder gar zu erhöhen. In diesem Zusammenhang spielt in Wallaces Roman auch die EDV eine große Rolle, deren Bedeutung er als Mathematiker schon damals in vollem Umfang erfasst hat. Tendenziell droht allen Steuerprüfern der Ersatz durch entsprechende Computersoftware, und hier liegt auch der Grund, warum Wallace den – zwischen 2005 und 2008 entworfenen – Roman in die 80er Jahre zurückverlegt. Die Computer- und Softwaretechnik steckten damals noch in den Anfängen, und beim IRS kam erschwerend dazu, dass die schon in der Frühzeit der EDV eingeführten Computer aus Kompatibilitätsgründen nicht so einfach auf moderne Technologie umgestellt werden konnten und daher mit der alten Lochkartentechnik weiterlaufen mussten. Diese Konstellation lässt den Konflikt zwischen menschlicher und maschineller Arbeit, der heute in diesem Kontext zugunsten der Computer entschieden ist, besonders scharf und glaubwürdig zutage treten.
Die für den Einzelnen sinnlose Arbeit und die Undurchdringlichkeit des gesamten Komplexes „Steuersystem“ lassen dieses zu Metapher einer sinnentleerten und ziellos vor sich hin wuselnden menschlichen Gesellschaft werden, ohne dass Wallace dies in Form einer moralischen oder politischen Anklage formulieren muss. Er weiß, dass die Moralkeule sich selbst als die verzweifelte Reaktion auf eine nicht verstandene Welt und als der ebenso irrationale Wunsch der Komplexitätsreduktion entlarvt. Nur die möglichst detaillierte Beschreibung der Fakten kann die Absurdität dieses Zustandes zutage fördern. Wallace steigert diese Wirkung noch durch exzessiven Gebrauch von Fußnoten, einer Technik, die normalerweise nur in Sachbüchern verwendet wird. Hier jedoch nehmen die Fußnoten den Rang eines Zweittextes ein, der die Geschehnisse noch einmal in teilweise rekursiver Fortsetzung genauer beleuchtet. So dienen Einrückungen oder Klammerstrukturen in den Fußnoten als deren Fußnoten und zeigen die nahezu unauslotbare Tiefe und Komplexität der Strukturen. Leser, die glauben, in einem Roman Fußnoten überschlagen zu können, liegen falsch, denn bei Wallace sind sie ein besonderes literarisches Mittel.
Die Lektüre dieses Romans weckt Assoziationan an drei große Vorbilder bzw. Vorgänger: Franz Kafkas „Prozess“, James Joyces „Ulysses“ und Robert Musi, „Mann ohne Eigenschaften“. Im „Prozess“ steht K. hilflos einem administrativen Moloch gegenüber, dessen Entscheidungswege er weder verstehen noch beeinflussen kann. Am Ende akzeptiert K. in einer Mischung aus Apathie und Einsicht in das Unvermeidliche seine eigene Exekution und verschmilzt sozusagen mit dem System. Auch Wallaces Helden, vor allem David Foster Wallace, stehen hilflos vor dem undurchschaubaren System und vor den kaum aufklärbaren Verwechslungen, und David Foster Wallace verschwindet irgendwann sang- und klanglos aus dem Personentableau des Romans, verschmilzt sozusagen mit dem IRS. Ähnlich wie Kafka beschreibt Wallace, der Autor, diese Vorgänge nicht mit den emotionalen Mitteln des Aufbegehrens und des Widerstands sondern allein mit der genauen Schilderung der konkreten Fakten.
In Joyces „Ulysses“ lassen sich die Protagonisten einen Tag lang durch die den Geist verwirrende Stadt Dublin treiben und dabei Alltagsdialoge führen, die zwischen höchstem intellektuellen Anspruch und plattestem Kneipengeschwätz changieren und dabei oft absurde Züge annehmen. Den gleichen Effekt kann man bei Wallace feststellen, wenn sich die Mitarbeiter im Dienst oder in der Freizeit miteinander unterhalten oder sich in innere Monologen zurückziehen. Und der bei Joyce alles dominierende Einfluss der katholischen Kirche wird bei Wallace durch die Steuermaximen der staatlichen Steuerverwaltung ersetzt. Darüber hinaus erinnert der lange Dialog zwischen der narzisstischen Frau und dem wortkargen Steuerexperten an Mollys Monolog am Ende des „Ulysses“, redet doch auch Meredith Rand, die Protagonistin bei Wallace, wie in einem inneren Bewusstseinsstrom.
Robert Musil schließlich hatte in dem „Mann ohne Eigenschaften“ die Darstellung einer Spätkultur – k.u.k.-Monarchie – zum Ziel. Die Hauptperson Ulrich versteht sich dabei als objektiver Beobachter, kann sich aber dem System nicht entziehen. Bei Wallace ist David Foster Wallace, in einer Art Vexierspiel Romanfigur und Autor zugleich, diese beobachtende Instanz, die ebenfalls diese Objeltivität nicht aufrecht erhalten kann. Beide beschreiben das späte Aufbäumen der Gesellschaft, Musil mit der „Parallelaktion“, Wallace mit der Optimierung – d.h. „Einnahmemaximierung“ – des Steuersystems. Beide greifen dabei weit aus auf die Außenseiter der Gesellschaft – Musil mit dem geisteskranken Moosbrugger und der mehr als kapriziösen Clarisse, Wallace mit verschiedenen mental schwer geschädigten Figuren und der exzentrischen Narzisstin Meredith. Nicht zuletzt verbindet beide Autoren eine ausgeprägte Sprachmächtigeit.
Eben diese Sprachkraft ist ein besonderes Merkmal des Romans, und sie reicht tief hinab bis in die Fußnoten. Wallace gelingt es mit seiner facettenreichen Sprache, mit seiner subtilen Ironie, die sich auf den ersten Blick nicht zu erkennen gibt, und mit der Fähigkeit, psychische und charakterliche Bilder zu malen, selbst das scheinbar öde Thema der US-Steuerverwaltung und ihrer Mitabeiter plastisch und spannend zu gestalten. Der Begriff „Spannung“ bezieht sich dabei jedoch nicht auf den Handlungsverlauf wie bei einem Thriller sondern auf die Entwicklung von Querverbindungen zwischen den unterschiedlichsten Charakteren und deren Reaktionen auf solche Beziehungen.
Auch wenn dieses Romanfragment nach nahezu sechshundert Seiten ohne dramaturgische Herleitung plötzlich endet, lohnt sich die Mühe der Lektüre ohne Einschränkung, führt der Roman doch auf unkonventionelle Art und Weise zum Kernpunkt hochentwickelter Gesellschaften mit ihrem rasenden Stillstand. Im Nachwort, wenn man es so nennen will, gibt der Herausgeber nicht nur weitere wertvolle Hinweise zum Verständnis des Romans, sondern fügt auch weitere Szenen und Notizen aus dem Nachlass an, die sich wegen eindeutiger sachlicher Widersprüche nicht in den Roman integrieren ließen (Alternativentwürfe?) oder die einfach Reflektionen und Absichtserklärungen des Autors zu seinem Werk enthalten.
Der Roman „Der bleiche König“ ist im Verlag Kiepenheuer & Witsch unter der ISBN 978-3-462-04556-7 erschienen, umfasst 625 Seiten und kostet 29,99 €.
Frank Raudszus
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