Das Staatstheater Darmstadt zeigt Michael Frayns historische Dokumentation „Demokratie“.
Eigentlich sollte man in einer Rezension nicht zwei unterschiedliche Inszenierungen ein und desselben Stückes vergleichen. Zu beliebig sind die Vergleichsobjekte – bisweilen nur durch zeitliche Nähe verbunden – und zu unterschiedlich die Ansätze, und oftmals dienen solche Vergleiche nur der Herabsetzung der einen und der Heraufsetzung der anderen Inszenierung. In dieser Rezension wollen wir jedoch ein wenig von dieser Maxime abweichen, da einerseits die Erinnerung an die Inszenierung von „Demokratie“ des Deutschen Theaters Berlin noch recht frisch sind und andererseits die unterschiedlichen Interpretationsansätze gerade Anlass für zumindest vergleichende Betrachtung geben.
Die Handlung haben wir in unserer Rezension der Berliner Aufführung beschrieben. Hier sei kurz nur erwähnt, dass es in „Demokratie“ um den Skandal des DDR-Spions Günter Guiilöaume geht, der jahrelang als persönlicher Referent des damaligen Bundeskanzlers Willy Brandt im engsten Zirkel der Bonner Macht agierte und seine Stimmungsbilder ordnungsgemäß an seinen Führungsoffizier weiterreichte.
Während die Berliner Inszenierung aus der Geschichte eine Parodie der Personen und Parolen mit viel Pop- und Schlagermusik der Zeit machte, nimmt die Regisseurin Sahar Amini in Darmstadt die Protagonisten und ihre Motive durchweg ernster. Zwar setzt auch sie punktuell Schlager der Zeit – als Element des Zeitkolorits – ein, doch die Musik bleibt dem Geschehen auf der Bühne stets extern, und die Darsteller schalten sie nach Belieben an und aus, während sie in Berlin dazu politische Potpourris und kabarettistische Chansons singen.
Die andere Ausrichtung der Darmstädter Inszenierung beginnt schon mit der Struktur der Inszenierung: sie spielt nicht im Staatstheater, sondern im Sitzungssaal der Stadtverordneten im „Justus-Liebig-Haus“, wo sich in regelmäßigen Abständen die politischen Vertreter der Darmstädter Kommune zu demokratischen Diskussionen treffen. Hier geht es nicht um Unterhaltung im Theater sondern um die Grundzüge des politischen Betriebs, lautet die Botschaft der Regie. Der Verzicht auf eine Pause und deutliche Streichungen von Szenen und Personen komprimieren die Aufführung auf gut eineinhalb Stunden. So fehlen in der Darmstädter Inszenierung die eher zweitrangigen Rollen von Hans Dietrich Genscher und des persönlichen Referenten Reinhard Wilke ebenso wie die satirische Rahmenhandlung in Berlin.
Auch die Personen lehnt Sahar Amini enger an die historischen Vorbilder an. Während man in Berlin offensichtlich bewusst auf eine zu große Ähnlichkeit verzichtete und damit den Allerweltscharakter der politischen Machtspiele zeigen wollte, schält Sahar Amini die Charaktere der einzelnen Spieler um die Macht deutlicher heraus und zeigt dabei die individuellen Eigenarten und Motivation der jeweiligen Personen.
Bei der Bühne gibt es in dieser Inszenierung nicht viel zu tun, also zeichnet die Regie für diese auch gleich mit verantwortlich. Amini lässt die Schauspieler längere Passagen auf den Sitzungstischen spielen, weniger ein Regiegag als ein Zugeständnis an den Saal, der über keine aufsteigenden Sitzreihen verfügt und bei ebenerdiger Spielweise die Sicht sehr einschränken würde. Außerdem nutzt Amini die Galerie über den Konferenztischen für verschiedene Auftritte. Von dieser Galerie hängt der untere Teil des Bundesadlers in den Raum hinab. Der Kopf des Adlers thront als Miniatur in eindeutig parodistischer Absicht auf dem übergroßen Federkleid und entpuppt sich dann als Krone, die dem neuen Bundeskanzler Willy Brandt zu Beginn des Stücks symbolträchtig auf den Kopf gesetzt wird.
Die Kostüme sind nur scheinbar unauffällig, tragen doch alle Darsteller – es gibt in diesem Stück keine Frauen! – dunkelgraue Anzüge, dazu dunkelblaue Hemden und dunkelblaue Krawatten, die entfernt an die FDJ-Hemden erinnern. Die uniforme Kleidung von Wessi und Stasi verweist dezent auf die Gleichartigkeit der Machtspiele in verschiedenen politischen Systemen. Ein Herbert Wehner und Helmut Schmidt dienen zwar anderen Herren als Günter Guillaume und Arno Kretschmann, aber alle folgen den gleichen Machtinstinkten und spielen die gleichen Spiele um Einfluss und Herrschaft. Da ist es nur logisch, dass Amini auch die beiden Stasi-Vertreter nicht als finstere Gesellen eines Unrechtsstaates charakterisiert sondern als Manager eines Unternehmens, bei dem es darum geht, möglichst viele Informationen aus dem gegnerischen Lager zu erhalten. Nicht nur Guillaume (Tobias Gondolf), dem man generell eine zunehmende menschliche Nähe zu Brandt und damit ein wachsendes Loyalitätsproblem zubilligte, zeigt hier menschliche, ja sympathische Züge, sondern auch Kretschmann (Andreas Vögler), der alert und durchaus mit Humor ein Geschäftsmodell vertritt, das erst knapp zwanzig Jahre später in die Insolvenz führen wird.
Auch die Darmstädter Inszenierung arbeitet mit Videoeinspielungen, nutzt dabei aber – historisch authentisch! – einen alten Overhead-Projektor, mit dem die Darsteller Fotos von Willy Brandt und Günter Guillaume an die Wand werfen. Allerdings handelt es sich dabei nicht um historische Fotos sondern um deren naturgetraue Nachbildungen mit Uwe Zerwer (Willy Brandt) und Tobias Gondolf (Guillaume). Die genaue Rekonstruktion der Bilder weckt allerdings die gewünschten nostalgischen Assoziationen, die noch durch die naturgetreue „Aufrüstung“ Uwe Zerwers in Richtung Willy Brandt verstärkt werden. Zerwers Haare sind mittig aufgebläht zu Brands später Haartolle, und Tobias Gondolf naht sich von hinten Zerwers alias Brandts Ohr wie weiland Guillaume dem seines Zielobjektes. Auch die Erfurter Fensterszene mit Brandts staatsmännisch-beschwichtigender Geste wird – wie andere historische Aufnahmen der politischen Mesialliance – in angegrautem Schwarz-Weiß naturgetreu nachgestellt.
Die Reduzierung auf die wesentlichen Personen bekommt der Darmstädter Inszenierung ausgesprochen gut. So konzentriert sich das Geschehen auf die Bonner Protagonisten einerseits und die Schatten der Stasi andererseits. Neben Brandt wachsen die „siamesischen Zwillinge“ Wehner und Schmidt zu zentralen Personen des Bonner Politpersonals heran. Beide sind Brandt-Gegner: Wehner (Aart Veder) aus der Sicht des knallharten Kaderchefs, der die SPD als Teil der westlichen Demokratie – was soll das sein?? – wie eine unter existenziellen Bedingungen kämpfende Revolutionsarmee führen will und Brandt als „lauen“ Typ verachtet, und Schmidt (Hubert Schlemmer), der seine Vorstellung eines sozialdemokratischen Kanzlers nur zusammen mit seiner eigenen Person denken kann. Aart Veder gelingt es dabei, Herbert Wehner in seinen zentralen Eigenschaften – kurze, bissige verbale Ausfälle mit heftigem Kauen an der Pfeife – überzeugend darzustellen, während Hubert Schlemmer einen durchsetzungsstarken, latent autoritären Politiker gibt, der aber nicht zwingend an Helmut Schmidt erinnert. Dazu fehlt ihm vielleicht das norddeutsche Naturell, aber das spielt keine Rolle, da es nicht in erster Linie darum geht, die historischen Personen möglichst authentisch nachzustellen.
Uwe Zerwer hat in der Hauptrolle eine schwierige Gratwanderung zu bestehen. Er soll Willy Brandt als ehrlichen, visionären Politiker auf der einen und als an der Realität (ver)zweifelnden, depressiven Menschen auf der anderen Seite darstellen. Er schafft dies durch eine bewundernswerte Konzentration auf den entrückten Charakter dieser politischen „Ikone“, der einerseits unter der Ächtung des Emigranten (und unehelichen Kindes) litt, andererseits dem Hauen und Stechen des politischen Geschäfts nichts abgewinnen konnte. Uwe Zerwer zeigt Willy Brandt als einen Menschen, der für die Position des Bundeskanzlers völlig ungeeignet und doch gleichzeitig historisch unverzichtbar war. Die Depressionen waren eine logische Folge dieser inneren Zerrissenheit. Zerwer schafft dies ohne Geschrei oder ähnliche Zeichen psychischer Anspannung und beschränkt sich auf knappe Äußerungen der Körpersprache, der Mimik und des Sprachduktus, um die seelische Belastung darzustellen. Die Stasi-Witze Brandts mögen abgestanden sein, aber aus Zerwers Mund kommen sie wie der verzweifelte Versuch, Lacher und damit Solidarität bei seinen Parteigenossen zu ernten. Doch Schmidt und Wehner alias Schlemmer und Veder rollen nur mit den Augen.
Die geheimen Treffs von Guillaume mit seinem Führungsoffizier Kretschmann werden hier nicht – wie in Berlin – in separaten Szenen dargestellt, sondern spielen sich sozusagen intrinsisch innerhalb des Bonner Alltags ab. In brenzligen Situationen bespricht sich Guillaume alias Tobias Gondolf im Nebengespräch – frei nach den italienischen Buffo-Stücken – mit Kretschmann wie mit einem „alter ego“. Andreas Vögler nimmt als Kretschmann sozusagen an jedem Bonner Meeting teil, und dadurch spiegelt Amini die Infiltration des Apparats durch die Stasi-Spione auf besonders eindringliche Weise wider. Vögler und Gondolf spielen dieses Spiel der doppelten Ebene, von dem die naiven Bonner Politiker lange nichts ahnen, auf virtuose und nahezu humoristische Weise. Ein wenig schimmert hier die Auffassung durch, dass auch die Vertreter der DDR nur ein Spiel spielten, an das sie letztlich selbst nicht glaubten. Und Andreas Vögler liefert als Kretschmann noch eine satirische Pointe, wenn er auf den in absehbarer Zukunft zu erwartenden Zusammenbruch des westlichen Kapitalismus verweist. Lacher im Publikum.
Natürlich sind von diesem Stück keine Schlusspointen zu erwarten, weil jeder die historischen Ereignisse kennt und der Autor nicht die Absicht hegt, diese in irgendwelche Wunschvorstellungen umzudeuten. Doch Aminis Inszenierung bringt die Grundaussagen über das fragile Wesen der Demokratie und die menschlichen Schwächen ihrer führenden Vertreter überzeugend zum Ausdruck.
Die Stadtverordneten – alias das Publikum in deren Saal – bedachte diese Inszenierung mit kräftigem Beifall. Jubel oder andere Zeichen besonderer Emphase waren angesichts des Themas nicht zu erwarten.
Weitere Aufführungen finden am 19. 24. und 27. April sowie am 4., 12., 22. und 30. Mai statt.
Frank Raudszus
No comments yet.