Die Ehe ein Albtraum
Die Kammerspiele des Staatstheaters Darmstadt spielen Sergi Belbels Einakter „In der Toskana“
Als Theaterzuschauer versucht man bei einem neuen Stück stets, die präsentierten Szenen in einen logischen Zusammenhang zu rücken. Wenn Handlungen und Personenkonstellationen paradox oder gar unsinnig zu sein scheinen, sucht man den Fehler erst einmal bei dem eigenen – mangelnden – Verständnis, und damit liegt man oft auch richtig. Bisweilen jedoch erweist sich dieser Versuch von vornherein als vergeblich, da der Autor und die Regie genau das Gegenteil einer logischen Handlungskette bezwecken. Dann muss man sich der ganz eigenen Logik der Szenenfolge beugen und – meist erst am Ende – daraus eigene Schlüsse ziehen.
Genau dies ist der Fall bei Sergi Belbels Schauspiel „In der Toskana“, das in den Kammerspielen des Staatstheaters am letzten Tage des Trauermonats November seine deutsche Erstaufführung feierte. Und passend zu diesem zu Ende gehenden Monat, wie als verspäteter Beitrag zum Totensonntag, geht es in diesem Stück auch reichlich ums Sterben und um die Angst davor. Die junge Judith Kuhnert, seit drei Jahren am Staatstheater Darmstadt, hat die Regie auf der Basis der Übersetzung von Klaus Laabs übernommen.
Ähnlich wie in den Kammerstücken von Yasmina Reza oder Edward Albee bilden zwei Paare das Tableau: das Ehepaar Marc (Hubert Schlemmer) und Joana (Stephanie Theiß) sowie deren – nicht liierten! – Freunde Marta (Gabriele Drechsel) und Jaume (Uwe Zerwer). Die Bühne besteht aus einigen multifuktionalen Polsterteilen und durchsichtigen Plastikvorhängen, die die Bühne andeutungsweise in einen Vordergrund und einen Hintergrund teilen. Die erste Szene zeigt Marc und Joana, deren Ehe deutliche Stressmerkmale aufweist. Beide legen Worte des jeweils anderen schnell auf die Goldwaage, entschuldigen sich und suchen doch wieder nach dem nächsten Haken im Verhalten des anderen. Vor allem Marc wirkt abwesend und latent aggressiv. Deshalb schenkt Joana ihm zum Hochzeitstag eine Reise in die Toskana, um an die erste, unbeschwerte und glückliche Reise vor vielen Jahren anzuknüpfen. In der nächsten Szene sind sie von dieser Reise zurückgekehrt, doch Marcs seelischer Zustand hat sich erheblich verschlechtert: der erfolgreiche Architekt, der vorher nur überarbeitet wirkte und in einer typischen „midlife crisis“ zu stecken schien, sucht jetzt bei jeder Gelegenheit Streit mit seiner Frau, legt einen kaum kaschierten Zynismus an den Tag und stößt auch die Freunde vor den Kopf.
So weit so schlecht – was den Zustand dieser Ehe betrifft. Jetzt aber setzt langsam die Logik aus. In einer Szene kritisiert Jaume seinen Freund Marc auf eine sehr direkte Weise, indem er dessen angeblich glückliche Reise in die Toskana mit dem Elend der Welt konfrontiert. Außerdem bingt er ihn gezielt auf das Thema Krankheit und Tod. In der nächsten Szene befindet sich dann Marc selbst in einem Krankenhaus, wo ihm zwei Ärztinnen in geradezu grotesker Weise eine schwere Erkrankung und seinen baldigen Tod mitteilen. Dabei sind diese Frauen offensichtlich seine Frau Joana und deren Freundin Marta. Die Szene geht dann direkt über in eine normale Eheszene von Marc und Joana, die sich einerseits auf die Krankenhausszene bezieht, dieser jedoch wiederum inhaltlich widerspricht. Die chaotischen Szenen reihen sich jetzt aneinander, so etwa, wenn Marc seine Frau und seine Freunde fragt, wer ihn hassen könnte und diese recht direkte und ungewöhnliche Antworten geben. Zunehmend stellt sich der Eindruck ein, dass hier Albträume dargestellt werden, in denen die bekannten Personen mal groteske, mal perfide und mal schonungslos ehrliche Bemerkungen von sich geben.
Im Laufe des Stücks klärt sich auch die konstruktive Seite des Stücks. Das Telefon spielt dabei eine zentrale Rolle, allerdings eher als Auslöser denn als Gegenstand der Gesellschaftskritik. Jedes Mal, wenn ein Telefon klingelt, geraten die Dinge aus den Fugen, und offensichtlich ist es immer Marc, der im Mittelpunkt von Betrug, Eifersucht, Verrat und mörderischen Gelüsten steht. Zunehmend stellt sich heraus, dass diese Szenen Projektionen seiner Ängste und Ahnungen sind, die er sowohl aus konkreten Alltagssituatiuonen wie aus eben diesen Albträumen entwickelt. Im Mittelpunkt steht dabei die echte oder vermeintliche Untreue seiner Frau Joana, wobei auch der Zuschauer nie letzte Klarheit darüber gewinnt, welche Szene reine Vision und welche konkrete Realität ist. Dadurch bleibt auch lange im Unklaren, ob Joana wirklich bereits seit längerem einen Liebhaber hat, weil ihr der einst so geliebte Marc mit seiner Lebenskrise nur noch auf die Nerven geht. Einzig, dass die Ehe stark kriselt, kann man mit Sicherheit annehmen. Und aus der Tatsache, dass Joana ihre Freundin Marta mit dem Junggesellen Jaume verkuppeln will – was diese wohl auch gerne möchte -, bauen sich bei Marc neue Albträume um Marta auf, in denen ihm diese knallhart und zynisch das Ende seiner Ehe mitteilt. Aus dem Namen eines früheren Freundes von Marta erwächst in Marcs Hirn die Vorstellung eines jüngeren und attraktiveren Liebhabers, dem Joana hörig ist.
In den „konkreten“ Szenen dazwischen versucht Joana immer wieder, herauszufinden, was mit Marc geschehen ist, der mit seiner abrupten und verletzenden Art nicht nur sie sondern auch ihre Freunde vor den Kopf stößt. Doch dieser lässt nicht mit sich reden und verweigert jegliche Erklärung seines Verhaltens. Es schält sich jedoch heraus, dass die Wandlung vom – wieder – glücklichen Ehemann zum zynischen Misanthropen binnen zehn Minuten am letzten Tag des Urlaubs in der Toskana erfolgte. Erst in der allerletzten Szene des Stücks wird sich herausstellen, was damals geschehen ist, und zu einer letzten, fast paradoxen Pointe führen.
Die Selbstbezogenheit Marcs, die nur zum Teil Folge seiner Ängste ist, lässt ihn auch keine Empathie für seine Umwelt empfinden. So merkt er trotz deutlicher Hinweise nichts von der tödlichen Erkrankung seines Freundes Jaume, ja dessen allgemeine, bedeutungsschwere Hinweise auf Krankheit und Tod lassen Marc nur an die Gefahr für das eigene Leben denken. Als Jaume dann stirbt, hat Marc als einziger nichts von seiner Krankheit gewusst. Dafür begegnet ihm der gerade Verschiedene im nächsten Albtraum wieder und lenkt die Geschicke der im Diesseits Verbliebenen von „oben“. Dazu ist der Bühnen- und Kostümbildnerin Carola Volles ein netter Gag eingefallen, der ein wenig Humor in dieses abgrundtiefe Stück bringt. Uwe Zerwer schwebt mit Engelsflügeln auf dem Rücken auf einer Schaukel über die Bühne und kündet heiter vom zweiten Leben im Jenseits. Da Träume bekanntlich, kommen sie nun vom Alb oder nicht, jede Logik zerschießen können, verhaspelt sich Jaume bei seinem Kontakt aus dem Jenseits mit Joana, Marc und Marta heftig und bringt mehr Chaos als Aufklärung, so dass er sich schleunigst ins Jenseits zurückzieht. Marc steht wieder einmal hilflos vor diesen Visionen und fällt weiter in Depressionen.
Zunehmend festigt sich der Eindruck, dass die Abfolge von Ursache und Wirkung in der Handlung verschwimmen, das heißt, der Autor lässt die Reihenfolge bewusst offen. Dass depressives und aggressives Verhalten genau die Wirkung zeitigen kann, die man befürchtet, gehört heute zum Allgemeinwissen – „self fulfillig prophecy“. Sergi Belbel weitet dieses Prinzip auf die Handlungskette aus, indem er offen lässt, welche Handlungen ud Ereignisse Ursachen und welche Auswirkungen sind. Dadurch dreht sich die Logik des Stücks im Kreise, eben wie ein Albtraum, aus dem es auch kein logisches Entrinnen gibt außer dem Aufwachen. Und wenn man sich einmal darauf eingelassen hat, dass es hier nicht um die Analyse einer Ehe- und Freundschaftskrise sondern um die inneren Vorgänge in den von ihnen Betroffenen geht, dann beginnt man das Chaos zu verstehen, das die Ängste und Sehnsüchte erzeugen und das wiederum diese verstärkt. So erweist sich das Stück als Fortsetzung der bekannten Filmtradition von Buñuel oder Almovodar, bei der auch dunkle Ängste und verschlossene, in sich widersprüchliche und abgrundtiefe Seelenwelten im Mittelpunkt stehen.
Zwar handelt das Stück vordergründig von psychischen (Wahn-)Zuständen, doch dahinter verbirgt sich handfeste Gesellschaftskritik. Hauptperson ist der erfolgreiche Architekt Marc, der alles erreicht hat und auf dem Gipfel seines Erfolges ringsum nur „abwärts blickt“, wie sein Freund Jaume feststellt. Marc bezieht alles um ihn herum ausschließlich auf sich. Er unterstellt Frau und Freunden Verrat, Betrug und böswilliges Verlassen. Die Krankheit seines Freundes wird – im schlechten Sinne – zu seiner. Und wenn er seine Frau verlässt, ist dies eine verständliche Reaktion auf deren Zumutungen und dient hauptsächllich der Selbstfindung. Marc, seelisch abgehärtet durch seinen beruflichen (Lebens-)Erfolg, lässt neben sich nichts gelten, gibt keine Schwächen – eben seine Ängste und Visionen – zu und weigert sich, über Probleme zu reden, weil es nicht geben kann, was es nicht geben darf. Für ihn sind die anderen nur Marionetten und Stichwortgeber, und so ist folgerichtig auch das Stück aufgebaut. Die anderen Figuren der Geschichte bewegen sich immer auf Marc zu und sind in gewisser Weise abhängig von ihm, obwohl und weil ihre Vorwürfe und vernichtenden Urteile immer auf ihn zielen.
Judith Kuhnert hat das Stück mit hohem Tempo inszeniert und lässt die Szenen bewusst ineinander übergehen, um damit den Unterschied zwischen Realität und Wahn zu verwischen. Die durchsichtigen Vorhänge dienen zwar als grobe Trennung zwischen Sein und Schein, doch gehen die Szenen auch hier ineinander über. Die vier Schauspieler setzen dieses Konzept mit durchgängig hervorragenden Leistungen um. Die als Gast erst spät eingesprungene Stephanie Theiß ist eine in ihrer inneren Zerrissenheit und Hilflosigkeit überzeugende Joana und verdeutlicht den Irrsinn, an der Seite eines solchen Mannes leben zu müssen. Neben ihr spielt Gabriele Drechsel, die permanent zwischen den realen Auftritten einer selbständigen Frau und der Projektion in Marcs Kopf pendelt. Mal angepasste Freundin, die sich für den Junggesellen Jaume schön macht, dann wieder abgebrühte Zicke, die Missgunst, Schadenfreude und Intrige auskostet. Von Gabriele Drechsel wissen wir auch, das sie mit wenigen mimischen Zeichen – Mund- und Augenbewegungen – ganze psychische Welten schaffen kann. Neben diesen beiden Frauen fallen die beiden Männer nicht einen Deut ab. Hubert Schlemmer zeigt in der Hauptrolle des Marc vom selbstbewussten, fast prahlerischen Ego bis zum zerrütteteten Paranoiker eine breite Palette von Befindlichkeiten und beweist, das er auch andere Rollen spielen kann als die des Entertainers oder des aalglatten Geschäftsmanns oder Politiker. Uwe Zerwer rundet das Quartett ab mit einer ebenso glaubwürdigen und facettenreichen Darstellung des Träumers und Zauderers Jaume, der wesentlich mehr von der Welt gesehen und verstanden hat als Marc und sich doch gegen diesen nicht behaupten kann.
Das Premierenpublikum war begeistert von dieser fast zweistündigen Psycho-Show und dankte dem gesamten Ensemble mit lang anhaltendem Beifall.
Frank Raudszus
Die nächsten Vorstellungen finden am 6., 16. und 22. Dezember statt
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