Ragna Schirmer spielt im 8. Kammerkonzert des Staatstheaters Darmstadt Beethoven und Schumann

Print Friendly, PDF & Email

Die Pianistin Ragna Schirmer
Solokonzert mit druckreifem Vortrag
 
Wenn bei einem Kammerkonzert die Musiker die Bühne betreten, erfolgt das üblicherweise ohne verbale Vorstellung. Man verneigt sich, setzt sich an die Instrumente und konzentriert sich auf das bevorstehende Spiel. Das Programm ist dem Publikum sowieso bekannt, und es erübrigen sich jegliche weiteren Worte. Da überrascht es schon, wenn plötzlich die Solistin eines Klavierabends, hier die Pianistin Ragna Schirmer, sich an die Bühnenrampe begibt und das Wort an die Zuhörer richtet. Sofort stellt sich die Befürchtung ein, die Solistin werde eine unangenehme Nachricht übermitteln, etwa, dass ihr linker Daumen verletzt oder sie erkältet sei und daher ein anderes oder gar verkürztes Programm spielen müsse. Doch nicht im Falle dieses Konzerts: Ragna Schirmer stellte in druckreifer Rede, als halte sie schon seit Jahren Vorträge vor großem Publikum (vielleicht tut sie das ja auch), die einzelnen Stücke des Abends vor und verwies dabei auf das „hervorragend recherchierte“ Programmheft. Zwar stand das, was sie ausführte, tatsächlich in dem Heft, aber es wirkt doch wesentlich persönlicher und authentischer, um einmal einen Begriff des Zeitgeistes zu benutzen, wenn die Solistin des Abends nicht nur über ihre Hände sondern auch über die normale Sprache Kontakt mit dem Publikum aufnimmt und ihm erzählt, was sie in den nächsten beiden Stunden zu tun gedenkt. Dabei wirkte diese Ansprache trotz – oder wegen – ihrer sprachlichen Sicherheit flüssig und natürlich, keinen Augenblick einstudiert.

Ludwig van BeethovenSoweit zum Auftakt dieses Abends. Ragna Schirmer, Professorin für Begabtenförderung in Halle, hatte ein besonderes Programm zusammengestellt, in dessen Mittelpunkt stand. Den ersten Teil bildeten in Form einer aufsteigenden Linie die Fantasie g-moll op. 77 und die berühmte letzte Sonate op. 111 in c-moll, die wiederum die „Fantasia  on an Ostinato“ des Amerikaners John Corigliano einrahmten. Im zweiten spielte Ragna Schirmer dann Klaviermusik von , aber auch hier spielte wieder Beethoven eine Rolle.

Das Konzert stand unter dem Motto der „Fantasie“, einer musikalischen Form, die auf die strenge Struktur etwa der Sonate verzichtet und sich metrische, melodische und harmonische Freiheiten herausnimmt. Die spontane musikalische Idee und die Improvisation stehen im Vordergrund. Gerade Beethoven stand in dem Ruf eines großen Improvisateurs und gestaltete manchen Konzertabend mit freien Improvisationen. war sozusagen ein „Vetter im Geiste“, denn seine Musik trägt fast durchweg Züge einer Fantasie.

Robert SchumannBeethovens „Fantasie in g-moll“ entstand im Jahre 1809, also in einer fortgeschrittenen Schaffensphase. Angeblich war sie die „Ausschreibung“ eines Improvisationsabends. Die Bezeichnung „g-moll“ ist mit Vorsicht zu genießen, denn laut Ragna Schirmer stehen nur die ersten vier Takte in dieser Tonart. Anschließend wandert die Fantasie – sozusagen eine „Wander-Fantasie“ – durch die Tonarten und endet in der entferntesten – in H-Dur! Gleich das erste Thema beginnt mit einem rauschenden Lauf abwärts, an den sich ein einfaches Thema anschließt. Von da an wechseln sich die Themen in kurzen Abständen ab, mal liedhafte Motive, dann wieder auf- und abführende Läufe von Achteln und Sechzehntel. Die einzelnen Teile stehen ohne thematischen Bezug nebeneinander, nur der momentane Einfall spielt eine Rolle. Ragna Schirmer grenzte die einzelnen Teile bewusst gegeneinander ab und ließ auch der Metrik viel Raum, indem sie bewusst Pausen und Verzögerungen einsetzte. Dadurch kam der Charakter der Fantasie deutlich zur Geltung, bei dem die spontane musikalische Idee im Vordergrund steht.

John Coriglianos „Fantasie on an Ostinato“ baut auf dem Thema des 2. Satzes aus Beethovens 7. Sinfonie auf, das aus einer Viertelnote, zwei Achtelnoten und zwei Viertelnoten besteht und in getragenem Tempo notiert ist. Corigliano lässt dieses Thema als „Ostinato“ abwechelnd durh die linke oder rechte Hand laufen und spielt darüber mit der jeweils anderen Hand. Das Stück beginnt mit einem kräftigen Akkord in A-Dur, an den sich das Thema auf dem einzelnen Ton gis anschließt, In minimalistischer Manier werden dieser Ton und das Thema in verschiedenen rhythmischen Varianten wiederholt und minimal variiert. Dadurch entsteht eine schwebende, entrückte Atmosphäre. Im weiteren Fortschreiten erzeugt Corigliano durch Läufe und enge Akkorde dichte Klangflächen, die immer wieder das Beethovensche Thema aufnehmen. Spiegelbildlich endet das Stück mit einer Solopassage des Themas auf dem gis-Ton und dem abschließenden Akkord.

Ragna Schirmer hatte schon vor dem Corigliano-Stück angekündigt, dass sie Beethovens letzte Sonate, op. 111 in c-Moll, unmittelbar daran anschließend spielen werde. Sie wollte dadurch eine Applausunterbrechung verhindern und die beiden Musikstücke sozusagen als eine Einheit darstellen. Und tatsächlich gelang dieses Experiment auf beeindruckende Weise, obwohl nahezu zweihundert Jahre zwischen diesen beiden Kompositionen liegen. Beethovens letzte Sonate ist selbst eine Art Fantasie, was man schon daran erkennt, dass sie – im Gegensatz zur üblichen Sonatenform – nur aus zwei Sätzen besteht. Der erste beginnt im „Maestoso“-Tempo mit relativ freier Metrik und geht dann in einen Allegro-Teil über, der wiederum von ausufernden Läufen und fugenartigen Passagen mit komplexen Strukturen geprägt ist. Die sonatentypische Vorstellung und Verarbeitung von Thema und Nebenthema ist hier nicht mehr zu erkennen. Beethoven begibt sich hier in das weite Feld der metrischen und motivischen Improvisation, nur dass diese nicht spontan aus dem Augenblick des Spiels entstand sondern als Sonate gezielt komponiert wurde. Das Opus 111 gilt als eines der bedeutendsten und ihrer Zeit weit vorauseilenden Musikwerke und stellte damals höchste – vielleicht zu hohe – Anforderungen an das Publikum.

Im Zusammenklang mit Coriglianos Fantasia merkt man deutlich, wie modern und minimalistisch Beethoven in seiner Spätphase war. Ähnlich wie viel später der Amerikaner insistierte auch er schon auf einzelnen Tönen oder „dekonstruierte“ das musikalische Material auf höchst abstrakte Weise, die schließlich auch die Bezeichnung „absolute Musik“ kreiierte. Ragna Schirmer präsentierte Beethovens Sonate äußerst konzentriert, jedoch ohne überzogenes – vermeintlich Beethovensches – Pathos. Klar und transparent schälte sie die Motive und Strukturen dieser fast jenseitigen Musik heraus und legte damit die besondere Bedeutung dieser Komposition offen.

Nach der Pause stellte sie dann – erst einmal wieder verbal – Schumanns „Etüden in Form freier Variationen über ein Thema von Beethoven“ vor. Wieder war es das Thema aus dem zweiten Satz der 7. Sinfonie, das sich vor allem in der linken Hand entfaltete. In fünf verschiedenen Etüden, die sich jeweils einem anderen technischen Aspekt des Klavierspiels widmen, verarbeitet Schumann dieses Thema auf unterschiedliche Weise, mal bewegt und leicht, mal wuchtig, mal verdichtet oder in Läufe aufgelöst. Diese Etüden sind als Verbeugung Schumanns vor dem großen Vorgänger zu sehen, und Ragna Schirmer verbeugte sich in Gedanken und im Spiel vor beiden. Anschließend verwies sie auf die technischen Schwierigkeiten der Schumannschen Musik, die schon Clara Schumann betont hatte.

Mit den berühmten „Papillons“ op. 2 verabschiedete sich Ragnma Schirmer endgültig von Beethoven und brachte „Schumann pur“ zu Gehör. Diese Musik besteht aus zwölf Skizzen über das Thema „Schmetterling“ und zeichnet sich durch ausgeprägte Agogik aus, die Ragna Schirmer ganz bewusst ausspielte. Schumanns Musik erhält dadurch eine besondere emotionale Note und bringt einerseits das flatterhafte, durchsichtige Wesen des Schmetterlings, andererseits dessen Zerbrechlichkeit und ephemeren Charakter zum Ausdruck.

Ragna Schrimer beschloss ihr Programm mit den Noveletten op. 21 Nr. 2 von , die man als musikalische Deutungen einer literarischen Vorlage verstehen kann. Wie Novellen erzählen sie jeweils eine kleine Geschichte und passen damit auch wieder zu dem übergreifenden Motto „Fantasie“ dieses Abends.

Das Publikum dankte der Solistin nicht nur für ihr technisch perfektes Spiel und die feinfühlige Interpretation sondern auch für ihre erhellenden und humorvollen Worte mit kräftigem Applaus. Sie bedankte sich dafür mit einer Chopin-Etüde, bei der man „im Gegensatz zu Schumanns Etüden die Schwierigkeiten erahnen konnte“ sowie der Aria aus Bachs „Goldberg-Variationen“.

Frank Raudszus

 

No comments yet.

Schreibe einen Kommentar