Georg Büchners „Woyzeck“ als sozialdramatisches Musical im Staatstheater Darmstadt

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Maika Troscheit (Marie), Simon Köslich (Woyzeck)

Expressionismus zu Zeiten des Biedermeier

Georg Büchners „Woyzeck“ als sozialdramatisches Musical im Staatstheater Darmstadt
Der Worte über Büchners Sozialdrama „Woyzeck“ sind genug gewechselt – möchte man sagen. Dieses Stück diente für Jahrzehnte als der deutsche Archetypus der Anklage gegen die Unterdrückung des Individuums und generell der niederen sozialen Stände. Eine Ansammlung von Duodez-Fürstentümern, die das Ende der französischen Revolution aufatmend beklatschten und die Restauration in vollen Zügen genossen, kannte das einfache Volk nur als „plebs contribuens“ und als Kanonenfutter für diverse Kleinkriege. Das Individuum existierte nur in den oberen Etagen der Gesellschaft.

Margit Schulte-Tigges und Sonja Mustoff (Nachbarinnen), Simon Köslich (Woyzeck)Mitten in diese Zeit platzte Georg Büchners „Woyzeck“, mit dem der Autor das Schicksal eines Unterprivilegierten thematisierte. Die Konsequenz, mit der Büchner die Demütigung und Entwürdigung des Woyzeck beschreibt, ihn von Stufe zu Stufe tiefer sinken lässt und gerade durch die intensive Darstellung seiner ohnmächtigen Verzweiflung die Würde des Individuums in den Vordergrund stellt, kam zu seiner Zeit einer kulturellen Revolution gleich. Kein Wunder, dass die Uraufführung erst im Jahr 1913 stattfand.
Betrachtet man den „Woyzeck“ genauer, so zeigt sich ein deutlicher expressionistischer Zug lange vor der „Erfindung“ dieser KUnstgattung: die Sprache dient weniger der sachlich-rationalen Vermittlung des Handlungsablaufes sondern besteht durchweg aus emotionalen, oftmals geradezu eruptiven „Entäußerungen“ der jeweiligen individuellen Befindlichkeit. Das gilt sowohl für Woyzecks existenzielle Verlorenheit wie auch für die Sehnsucht Maries nach Nähe und Geborgenheit; für die in Nächstenhass umschlagende Hybris des Arztes genau so wie für die selbstgefälligen Moralpredigten des Hauptmannes oder die letztlich nur die eigene Bedeutungslosigkeit kompensierende Ellbogenmanier des Tambourmajors. Jeder ist in seinen Enttäuschungen und Ängsten, aber auch in seiner Gier auf Status und Macht gefangen und drückt die verbogenen und verborgenen Seelenkrämpfe durch Sätze aus, die eher Schreien als Aussagen gleichen. Wie auch in anderen, späteren expressionistischen Stücken sprechen die Personen nie miteinander, gehen nicht auf den anderen ein, sondern richten ihre (An-)Klagen an eine leere, scheinbar entvölkerte Welt.
Büchners Stück gilt zwar aufgrund der reinen Faktenlage als Fragment, stellt aber einen weitgehend abgeschlossen Kontext her. Die Entwicklung Woyzecks vom armen, gepeinigten Objekt der verschiedensten Begierden bis zum Mörder verläuft schlüssig und endet dann auch im Mord an der eigenen, untreuen Geliebten. Dramaturgisch könnte diesem Höhepunkt nicht mehr viel folgen. Ja, der abschließende Satz des Gerichtsdieners „ein schöner Mord, so schön als man ihn nur verlangen kann“ stellt in ihrem naiven Zynismus – oder in in ihrer zynischen Naivität – eine gelungene Schlusspointe dar. Die Assoziation des Fragmentarischen stellt sich bei diesem so dichten und in sich geschlossenen Stück nie ein.
Das Staatstheater Darmstadt hat für diese Aufführung die sogenannte „Kopenhagener“ Inszenierung von Robert Wilson ausgewählt, die dieser mit Musik von Tom Waits unterlegt hat. Doch diese Musik kommt nicht als Begleitung aus dem Hintergrund, sondern sie nimmt eine markante Stellung ein. In Darmstadt hat Regisseur Malte Kreutzfeld den Orchestergraben des Kleinen Hauses genutzt und dort eine siebenköpfige Instrumentalgruppe installiert, die unter der Leitung von Michael Erhard am Klavier eine musikalische Begleitung intoniert, die nicht nur den auf der Bühne gesungenen Liedern gilt sondern auch sonst das Bühnengeschehen mit eigenen Klängen interpretiert. Der „Woyzeck“, den schon Alban Berg zur Oper umgearbeitet hatte, wird hier zu einer musikalischen Sonderform zwischen Oper und Musical. Als Oper enthält es zuviel Sprechtheater, als Musical ist es zu ernsthaft und kritisch, denn das Musical gilt nun einmal als kommerzialisiertes und thematisch eingeebnetes Musikprodukt der Massenkultur, der es in erster darum geht, das Publikum durch erheiternde Unterhaltung in seiner ganzen Breite anzusprechen.

Simon Köslich (Woyzeck), Hubert Schlemmer (Hauptmann)Alle Darsteller erhalten – wie im Musical! – die Möglichkeit einer gesanglichen Solo-Einlage. Die kommt dann meistens mehrstrophig daher und unterbricht damit den Gang der Büchnerschen Handlung. Dazu hat Tom Waits für Robert Wilsons „Woyzeck“-Inszenierung eine Reihe von Liedern komponiert, die unter dem Titel „Bloogy Money“ in einem eigenen Album zusammengefasst sind. Doch in diesen Liedern liegt in gewisser Weise das Problem der Inszenierung. Tom Waits` Musik weist unbestrittene Qualitäten auf, aber sie handelt immer von eher allgemeinen Sujets, wie man sie bei Pop-Musik – auch von der „besseren“ – halt kennt. Das sind Lieder über die Liebe, über das Elend der Armut oder auch kritische wie „God´s Away on Business“. Doch der „Woyzeck“ hat in den USA bei weitem nicht den gleichen Stellenwert wie in Deutschland, und daher fehlt der unmittelbare Bezug der Liedtexte zu Büchners Stück. Die eher professionellen Kompositionen des Musikers Waits spiegeln eher dessen eigenen Musikstil als die Betroffenheit über die Handlung des „Woyzeck“ wider. Kurz, so manches Lied ist fast zu eingängig für die jeweilige Situation und beschönigt diese, wenn auch unfreiwillig. Wenn Simon Köslich als verzweifelter und fast schon zum Mord entschlossener Woyzeck sein Liebeslied mit und für Marie singt, so klingt das anrührend lyrisch und entführt den Zuschauer buchstäblich vom Ort der Katastrophe. Und wenn Uwe Zerwer als Arzt „God´s Away on Business“ skandiert, dann gilt dies ebenfalls nicht unmittelbar der Handlung. Die englischsprachigen Texte der Lieder verstärken das Problem noch, da man sie nur fragmentarisch versteht und umso eher geneigt ist, den Wohlklang der Musik als solchen zu genießen und den Kontext zu vergessen. Doch um es rundheraus zu sagen: dies ist eine Kritik auf „hohem Niveau“, denn nicht nur gelingt es den Darstellern, die Waits-Songs hervorragend in ihr jeweiliges Spiel zu integrieren, sondern die Musik selbst ist sowohl instrumental als auch gesanglich von hoher Qualität. Als Zuschauer überlegt man sich jedoch, ob in einer musikalischen Version dieses Büchnerschen Dramas Schuberts „Winterreise“ als begleitende Musik eindrucksvoller gewesen wäre.
Bühnenbildner Nikolaus Porz, der auch für die Kostüme zuständig ist, hat mitten auf die Bühne eine kreisrunde Betonmauer gestellt, die sich vorne und hinten öffnen lässt. Sie steht für die hermetische Abriegelung der Welt gegenüber Woyzeck, der Beton für deren Kälte. Die Menschen der Gesellschaft leben innerhalb dieser sie abschirmenden Wände, Woyzeck außerhalb. Innerhalb dieser kreisrunden Welt ordnet Malte Kreutzfeld die Personen wie in einem grellen Panoptikum – eben expressionistisch – an, wobei ihm die Kostüme von Nikolaus Porz helfen. Der Ausrufer (Aart Veder) kommt als Zirkusdirektor in buntem Dress daher und gibt damit ein Zerrbild der Obrigkeit ab. Der Hauptmann (Hubert Schlemmer) stolziert – wenn  er nicht gerade bei der Rasur schwadroniert – mit hochgezogenem Hosenbund wie ein Besenstiel durch die Bühnenlandschaft, und der Doctor (Uwe Zerwer) schwelgt in geradezu sadistischer Manie(r) über seine medizinischen Versuche am „Objekt“ Woyzeck. Der Tambourmajor kommt – ein wenig gegen den niederen Rang dieser Figur – als ostelbischer Junker in Reitkluft und mit allzeit bereiten Fäusten daher. Alle diese Figuren präsentieren ihre Texte – auch wenn sie nicht singen! – ein wenig wie Songtexte, distanziert und mehr auf die archetypische als auf die individuelle Seite der Rolle gerichtet. Manches erinnert in dieser Inszenierung an Brechts „Dreigroischenoper“: die Charakterisierung der Personen, die verfremdete Darstellung und die nur scheinbar der Unterhaltung dienenden und auflockernden Songs.

Die Darsteller fügen sich nahtlos in das Regiekonzept ein. In der Hauptrolle spielt Simon Köslich einen gehetzten Woyzeck, der dieser Welt weniger verzweifelt – im eigentlichen Sinne – als vielmehr ohnmächtig-verständnislos gegenübersteht. Er lebt in einer Welt, die er als (gott)gegeben hinnimmt und die er akzeptieren muss. Er ist sogar zu den menschenfeindlichen Versuchen des Arztes bereit, um zusätzlich Geld für Marie und das gemeinsame Kind zu verdienen. Das ewig Abgehetzte, um Aufnahme in diese Welt Flehende drückt sich darin aus, dass Simon Köslich den Betonrundbau in stetem Dauerlauf umkreist, immer in der Erfüllung irgendeiner kurzfristigen Pflicht. Sein Woyzeck nimmt die Demütigungen dieser Welt hin, solange Marie als sein einziger Halt bei ihm bleibt. Als sie ihm untreu wird, verliert er diesen Halt und bringt sie in einer Art von folgerichtigen „Selbstentlastung“ um. Er begehrt nicht auf – ganz im Sinne Büchners – und versteht seine Tat  nicht als Fanal, sondern ist ein innerlich längst Getöteter, der den beiläufigen Winken der herrschenden Gesellschaft eher mechanisch folgt. Am Ende handelt er wie ein Ertrinkender, der aus reinem Reflex den ihm nächsten Schwimmer mit in den Untergang zieht. Simon Köslich zeichnet diese zutiefst am Leben verzweifelte Kreatur überzeugend nach und verleiht ihr existenzielle Züge. Neben ihm gibt Maika Troscheit eine bewegende Interpretation der Marie, die bei Woyzeck bleiben möchte aber seinen gesellschaftlichen und psychischen Niedergang nicht ertragen kann. Uwe Zerwer verleiht dem Doctor alle die schlechten Eigenschaften, die Büchner damals – wohl zu Recht – in der akademischen Oberschicht sah. Besonders beeindruckend der „babylonische Turm“ aus Stühlen, den er erst akribisch aufbaut und dann in einem Akt der Aggression umwirft. Neben den bereits erwähnten Hubert Schlemmer (Hauptmann) und Aart Veder (Ausrufer) spielt Andreas Manz einen polternd draufgängerischen Tambourmajor, während sich Matthias Kleinert dieses Mal mit der sparsamen Rolle des tumben, Maries Kind haltenden Karl begnügt. Ein hübscher Einfall sind noch die beiden tratschenden Nachbarsfrauen, denen Margit Schulte-Tigges und Sonja Mustoff ein deftiges Profil verleihen, einschließlich schrillem Gesangsduett.
Insgesamt ist dem Ensemble eine eindringliche Interpretation des Büchnerschen Dramas gelungen, wenn man einmal von dem ein wenig zu eingängigen Klang der Waits-Lieder absieht. Auf der anderen Seite fügt die Musik dem Stück ein neues Wirkungselement hinzu, und die Instrumentalbegleitung selbst spiegelt durchaus den Grundtenor des Stücks wieder.
Das Premierenpublikum war begeistert und sparte nicht am Beifall, der vor allem Simon Köslich und Maika Troscheit galt.
Frank Raudszus

Weitere Aufführungen am 10. und 19. 2. sowie am 1., 3., 7., und 16.3.2012 Alle Fotos © Barbara Aumüller

 

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