Im 6. Kammerkonzert des Staatstheaters Darmstadt treffen sich alte und neue Musik.
Das sechste Kammerkonzert der Saison im Staatstheater Darmstadt bot ein besonderes Programm. Dieses Mal war kein externes Ensemble zu Gast, sondern die Streicher des Sinfonieorchesters präsentierten die ausgewählten Werke selbst. Als Dirigent trat Markus Baisch, der neue Chorleiter des Staatstheater, ans Pult.
Das Außergewöhnliche dieses Konzerts war jedoch weniger die Besetzung als die Zusammenstellung des Programms. Während sonst – aus naheliegenden Gründen – moderne Stücke gerne von klassischen oder romantischen Werken eingerahmt werden, bildeten dieses Mal die modernen Werke die „Eckpfeiler“ des Abends. Zwischen den beiden zeitgenössischen Werken erklangen sieben kurze Streicher- Stücke von Henry Purcell, die aus dem Frühbarock stammen. Nun fragt man sich, warum Markus Baisch gerade diese zeitlich und stilistisch vermeintlich soweit auseinander liegenden Werke ausgewählt hatte. Doch der Hör-Eindruck beantwortete die Frage am Ende auf überzeugenden Weise.
Das „Triple Quartet“ des Amerikaners Steve Reich ist ein typisches Beispiel für die „minimal music“, bei der kurze musikalische Figuren über eine längere Zeit mit nur minimalen Veränderungen wiederholt werden. Die minimalen Variationen führen jedoch zu einer kontinuierlichen Veränderung des Klangbildes. Für die Rezeption dieser Musik ist daher nicht mehr das Erfassen und Nachvollziehen thematischer Strukturen und ihrer Durchführung wichtig, sondern das buchstäbliche „Er-Hören“ der Klangentwickluung. Das „Triple Quartet“ ist für drei Streichquartette, also zwölf Streicher – Violine, Viola, Violoncello -, geschrieben und kann damit über einen voluminösen und vielfältigen Klangkörper verfügen. Der erste Satz beginnt mit einem insistierenden Klangteppich, der aus einer gleichbleibenden, rhythmisch akzentuierten Begleitung in den Violen und einer wiederkehrenden Melodielinie der Violinen besteht. In einem Tempo, das man in anderem Kontext wohl mit „Allegro“ bezeichnen würde, breitet sich dieser Teppich mit ständigen, minimalen Verschiebungen von Rhythmik oder Harmonik aus. Die minimalistische Harmonik verhindert den herkömmlichen Spannungsauf- und -abbau über die bekannten Harmoniefolgen wie Tonika, und (Sub-)Dominante; auch Ritardandi oder andere Verzögerungen gibt es hier nicht. Die Spannung baut sich lediglich durch die strikte Einhaltung des Grundtempos und die erwähnten Verschiebungen auf. In gewisser Weise erinnert diese Musik an die Techno-Musik, die bei der jüngeren Generation längere Zeit in Mode war oder noch ist. Im zweiten Satz, der im halben Tempo des ersten Satzes gehalten ist, überwiegen emotional gedämpfte Töne. Trotz der reduzierten Harmonik herrscht hier ein fast trauernder Grundtenor, der sich allein aus der Rhythmik und den getragenen melodischen Figuren ergibt. Der dritte Satz dagegen ist ausgesprochen lebendig und von vorwärts drängendem Charakter. Die Streicher-Akkorde erinnern bisweilen an Beethoven, der solche expressiven Figuren gern am Ende einer thematischen Entwicklung verwendet. Hier sind sie jedoch das Standardmaterial.
Für die Purcell-Stücke war ein leichter Umbau der Bestuhlung erforderlich, da sich die Besetzung geringfügig änderte. Unter anderem kam nun ein Kontrabass hinzu. Purcells Fantasie-Stücke stellten ursprünglich wohl reine Übungen dar, die zu seinen Lebzeiten nicht zur Aufführung kamen. Erst die Nachgeborenen brachten sie auf die Konzertbühne. Die Analogien zur „minimal music“ eines Steve Reich sind durchaus vorhanden, wenn auch eher subtil. Auch diese Musik verzichtet auf harmonischen Spannungsaufbau und ruht sozusagen in sich. Der geistliche oder höfische Hintergrund erlaubten es nicht, dass ein Komponist die Musik zum emotionalen Kunstwerk „sui generis“ machte. Sie hatte sich unbedingt den Regeln zu unterwerfen und sich im Hintergrund zu halten. Diese Zurückhaltung, ja fast Unterwürfigkeit des Ausdrucks ergibt sich aus der sparsamen Verwendung unterschiedlicher oder gar Spannung aufbauender Harmonien. Der gleichförmig-getragene Tenor gibt die weltflüchtige, gottesfürchtige Grundhaltung der damaligen Gesellschaft wieder. Alle Fantasien durchzieht eine tiefe Melancholie, wenn nicht gar Schwermut, die man in ähnlicher Form erst bei Franz Schubert wiederfindet.
Unmittelbar nach dem letzten Stück, dem Choral „In Nomine“, schloss sich dann das letzte Stück des Abends an, „Shaker Loops“ von John Adams. Der Verzicht auf eine deutliche Pause war offensichtlich beabsichtigt, um die Ähnlichkeit der Musik über die Jahrhunderte zu zeigen. Im ersten Augenblick dachte man, Purcell habe mit den sirrenden Violinen zu Beginn das Insektengesumm eines heißen Sommertages wiedergeben wollen. Erst als sich diese Klangfigur mit unwesentlichen Änderungen über eine längere Zeit fortsetzte, wurde klar, dass sich die Musik wieder im späten 20. Jahrhundert befand. Der Titel „Shaker Loops“ ist als Wortspiel aufzufassen. Die Shaker waren einerseits eine Sekte des 18. Jahrhunderts, die sich ihren Namen durch ihre sogenannte „Schütteltänze“ einhandelten. Andererseits besteht das Musikstück aus zitternden („shaking“) Figuren, die sich durch das ganze Stück ziehen. Mit dieser Technik des „Zitterns“ erzeugt Adams eine breite Facette sehr subtiler Klangwirkungen. Die Spannung und die Faszination entstehen auch hier nicht durch harmonische oder thematische Auf- und Abschwünge, sondern durch permanente Wechsel des Klangbildes bei Verwendung nur sehr weniger melodischer Figuren und Harmonien. Das Werk erstreckt sich mit seinen vier Sätzen über die Länge einer ganzen Sinfonie und ähnelt deren klassischer Ausführung auch in der Satzfolge. Der erste („Shaking and Trembling“) und der letzte („A Final Shaking“) Satz zeichnen sich durch ihr hohes Grundtempo aus, die mittleren Sätze – „Hymning Slews“ und „Loops and Verses“ – sind eher langsam gehalten. Wie auch Steve Reich verzichtet Adams auf bewusste Atonalität und erinnert deshalb an manchen Stellen an die sinfonische Musik des frühen 20. Jahrhundertes, etwa Richard Strauss. Seine Musik bewegt sich weitgehend in bekannten (Moll-)Tonarten, ohne deswegen den Weg bewusster harmonischer Gestaltung zu gehen. Die Harmonien sind eher die Basis, auf denen Adams seine facettenreichen Klangbilder entwickelt.
Wie bei vielen modernen Stücken kam das Ende unerwartet und unangekündigt, und das Publikum benötigte einige Sekunden, um dies festzustellen und die Hände zum Beifall zu rühren. Dann setzte jedoch ein mehr als freundlicher Beifall ein. Das Publikum hatte sich offensichtlich auf einen „zeitgenössischen“ Abend vorbereitet und wusste nicht nur die große Leistung des Ensembles, das vor allem bei dem letzten Werk vor einer besonderen Herausforderung stand, sondern auch die Musik selbst zu schätzen.
Frank Raudszus
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