Die „Neue Bühne Darmstadt“ spielt Heinrich Spoerls „Feuerzangenbowle“´.
Die Älteren unter unseren Lesern kennen sicher noch Heinz Rühmann und seine Rolle als Dr. Johannes Pfeiffer in der Verfilmung von Heinrich Spoerls Roman aus dem Jahr 1933. Dieser Film war für eine ganze Generation die Reinkarnation des Romans, in dem Spoerl seine eigene Schulzeit an einem wilhelminischen Gymnasium, das er bis 1905 besuchte, verarbeitet hat. In der Hauptrolle kann man mit etwas gutem Willen auch ein autobiographisches Element vermuten, ist doch auch Johannes Pfeiffer ein erfolgreicher Schriftsteller mit Wohnsitz im mondänen Berlin der zwanziger Jahren, über dem noch nicht der Schatten von 1933 liegt.
Einige soignierte Herren gehobenen Alters und in angesehener Position treffen sich zur Feuerzangenbowle – ein anregendes Getränk aus Rotwein, Rohrzucker und Rum – und schwelgen in Schülernostalgien. Nur der noch recht jung aussehende Pfeiffer kann mit keinen Anekdoten aufwarten, weil er auf dem väterlichen Gut von einem ältlichen Hauslehrer unterrichtet wurde. So beschließt die weinselige Runde, Pfeiffer als Oberprimaner in ein verschlafenes Kleinstadt-Gymnasium einzuschleusen, um dort das Pennälerleben nachzuholen.
Natürlich geht es Spoerl in diesem Buch nicht um die intellektuelle Situation des Schriftstellers in dieser grotesken Situation, sondern er nimmt die Weltanschauung und das pädagogische Weltbild des autoritären Kaiserreiches aufs Korn. Dort predigen die gravitätischen Professoren – so damals noch der Titel der Gymnasiallehrer – Anstand, Sitte und Gehorsam vom Katheder und können wenig bis nichts mit den Interessen und Vorlieben junger Männer anfangen. Aus heutiger Sicht muten die Streiche – schon der Begriff ist „uncool“ – der Schüler des frühen 20. Jahrhunderts eher bieder an, doch tut das der komischen Wirkung grundsätzlich keinen Abbruch, wenn die Darstellung der einzelnen Personen stimmt. Dabei spielt nicht die nominelle Hauptperson Johannes Pfeiffer die wichtigste Rolle, sondern die Vertreter des Lehrkörpers, deren verschrobene Selbstgerechtigkeit und unerschütterlich enge Weltsicht ausreichend Anlass zur Komik geben.
Der Film schneidet die Geschichte auf den Hauptdarsteller Rühmann zu und wertet die Rolle etwas zu sehr auf. Obwohl Pfeiffer am Ende sogar das hübsche Töchterchen des Direktors gegen das anfängliche Entsetzen des Vaters gewinnt, spielt er eigentlich nur den Stichwortgeber für die Lehrer, die hier einer nach dem anderen vorgeführt werden. Regisseurin Renate Renken hat diesem Umstand dadurch Rechnung getragen, dass sie ihren besten Darsteller Rainer Poser gleich in einer Doppelrolle als Professor Bömmel und Professor Crey – genannt „Schnauz“ – eingesetzt hat. Hier kann Poser sein ganzes komödiantisches Talent entfalten, und das tut er wahrlich mit Hingabe.
Im Film lässt sich der Graubereich zwischen Realität und Phantasie durch geschickte Überblendungen und Weichzeichner darstellen, und damit verdeutlichte der Film auch, dass die ganze Geschichte letztlich in der zunehmend von der Feuerzangenbowle beeinflussten Vorstellung der nostalgischen Herrengemeinschaft entsteht und auch dort verbleibt. Das Theater hat diese technischen Möglichkeiten nicht. Regisseurin Renken deutet diese Phantasiewelt jedoch durch ein gestelltes Bild bei der Auflösung der Herrenrunde an und lässt am Ende Gabriela Reinitzer in einem kleinen Abgesang an der Gitarre die Geschichte in den Nebel des Weinrauschs entrücken.
Zwischen den Eckpunkten dieser Rahmenhandlung spielt sich dann eine temporeiche und treffend satirische Handlung ab, die auch heute noch das Publikum zu spontanen Lachern hinreißt. Da ist einmal der Professor Crey, der den unbotmäßigen Auftritten seiner Schüler – mit dem Aufrührer Rosen an der Spitze – hilflos gegenübersteht und nur mit gerötetem Gesicht und Allgemeinplätzen über die „sittliche Reife“ reagieren kann. Seine Welt ist gottesfürchtig und obrigkeitshörig, und alles, was diese Ordnung stört, versetzt ihn in Unruhe und erhöht seinen Blutdruck. Als die Schüler sich verabreden, nach einer kleinen Weinverkostung im Rahmen des Chemieunterrichts die Betrunkenen zu spielen, bricht für ihn eine Welt zusammen, zumal der Direktor mitten in das Chaos hineinplatzt. Dieser wird dagegen mit einem Frauenakt auf der Wandtafel konfrontiert und bricht in sittliches Entsetzen aus. Proessor Bömmel bildet als rheinische Frohnatur ein Gegengewicht gegen diese beiden Archetypen der wilhelminischen Pädagogik. Seine abgeklärte Lebensfreude nimmt intuitiv Partei für die Schüler, und er steht dem Dünkel und dem Schwadronieren seiner Kollegen mit heiterer Resignation gegenüber.
Den Höhepunkt markiert Pfeiffer durch eine inszenierte Parodie von Professor Crey am Lehrerpult, mit dem Ziel, rausgeworfen zu werden, weil er sich mittlerweile in die Direktorentochter verliebt hat. Mitten in diese von den Schülern bejubelte Farce brechen nacheinander der Schulrat, Direktor Knauer und Professor Crey selbst hinein, was zu entsprechendem Chaos führt, bevor sich am Ende alles zum „Happy End“ auflöst.
Nicola Reinitzer hat zusammen mit dem Bühnenteam ein Klassenzimmer mit surrealistisch schräger Tafel, engen Holzbänken und erhöhtem Katheder aufgebaut. Daneben steht friedlich Pfeiffers abgedecktes Bett bei der fürsorglichen und mütterlich-strengen Zimmerwirtin Windscheid. Von der Decke hängt eine rustikale Schaukel, an und auf der Pfeiffer und Direktor Knauers Tochter Eva die ersten zarten Bande knüpfen. Die Zuschauertische und – stühle sind dieses Mal noch dichter als sonst an die zentrale Bühne gerückt worden und schaffen dadurch eine besonders intime Theateratmosphäre. Man fühlt sich förmlich als Teil der aufmüpfigen Klasse und möchte – je nach Situation – am liebsten selbst eingreifen. Spoerl zeigt nämlich nicht nur die joviale Herablassung der Lehrer sondern auch die bösartigen Schikanen – heute würde man es „Mobbing“ nennen – der Schüler untereinander. Besonders der begabte und fleißige Luck ist Gegenstand der bösartigen Angriffe des intellektuell eher überschaubar ausgestatteten Rosen.
Die Darsteller zeigen in dieser Komödie, was in ihnen steckt, und das ist nicht wenig. Vorneweg steigert sich Rainer Poser derartig in seine Rollen der beiden Professoren hinein, dass er ohne Mühe den für die Rollen wichtigen roten Kopf bekommt. Mal zittert Creys Kinnbart vor hilfloser Empörung, dann schüttelt sich Bömmels unbürgerliche Mähne dank der spontanen Heiterkeit ihres Trägers. Poser zieht dabei alle Register der Typisierung, ohne dabei in Klischees zu verfallen. Seine Gestalten behalten nicht nur ihre Menschenwürde, sondern es wird auch deutlich, dass sie ebenfalls unter Ängsten leiden, die sie nur durch das Gerüst ihrer vermeintlichen Autorität im Zaum halten zu können glauben.
Ralph Dillman kommt als gravitätischer Direktor Knauer daher, der sich seiner herausgehobenen Stellung durchaus bewusst ist und das seine Umwelt – natürlich mit der gebotenen Menschlichkeit! – auch spüren lässt. Das ausgerechnet ein vermeintlich leistungsschwacher Primaner seine Tochter ehelichen möchte, führt ihn an den Rand des Herzinfarkt, und Ralph Dillman zerfällt förmlich ob dieser Ungeheuerlichkeit in seine seelischen Bestandteile.
Gabriela Reinitzer gibt die resolute Wirtin Windscheid als pragmatische Frau, die schon Generationen von Primanern betreut – und erzogen! – hat. Daneben tritt sie noch als Orgelspielerin Jette und als singende Erzählerin auf. Die jüngeren Ensemble-Mitglieder spielen die Schüler, in grobkarierten Kniebundhosen und kurzärmeligen Pullovern. Besonders schön auch Marcel Schüler als Dr. Johannes Pfeiffer in einem grässlich-schönen, großkarierten Anzug. Bianca Weidenbusch tritt als gepeinigter Schüler Luck sowie als Pfeiffers mondäne Verlobte auf, die ihm die voreheliche Pistole auf die Brust setzt. Axel Raether gibt einen hinterfotzigen Rosen, Jens Hommola und Markus Hill spielen die Schüler Melworm und Knebel. Sabrina Czink verleiht der Direktorentochter Eva einen schelmischen aber selbstbewussten Charakter.
Mit dieser Inszenierung hat die „Neue Bühne“ nicht nur ein gutes Gespür gehabt sondern auch einen großen Spaß auf die Bühne gebracht, der dem Publikum zu Recht außerordentlich gefallen hat.
Frank Raudszus
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