Das große Auge des Web
Die Kunsthalle Schirn zeigt „Das große Spätwerk“ des nordamerikanischen Malers Philip Guston
Im Jahr 1975 schuf Philip Guston ein Bild, auf dem ein Riesenauge unter einem Spinnennetz den Betrachter starr anblickt, und nannte es „Web“. Natürlich konnte er nicht ahnen, welche Aktualität dieses Bild gerade heute ausstrahlen würde. Der Begriff „Web“ bezeichnete damals ganz naiv lediglich ein Spinnennetz, und das starre Auge war ohnehin ein Markenzeichen des Künstlers. Darüber hinaus könnte Guston in seiner gesellschaftskritischen Haltung dieses Bild in heutzutage in einem wesentlich brisanteren und konkreteren Kontext geschaffen haben, wenn er denn noch leben würde.
Philip Guston kam 1913 als Sohn armer russisch-jüdischer Auswanderer namens Goldstein in Montreal zur Welt und wuchs unter sehr eingeschränkten Bedingungen in Los Angeles auf. Im Alter von zehn Jahren erlebte er den Selbstmord seines Vaters unmittelbar selbst und hatte sein Leben lang mit dieser traumatischen Erfahrung zu kämpfen. Schon früh zeigte er zeichnerisches Talent, das sich vor allem in Kopien von gängigen Cartoons ausdrückte. Seine Mutter förderte seine Begabung und schickte ihn auf die Los Angeles Manual Arts High School, wo er Jackson Pollock kennenlernte und mit diesem zusammen bereits nach einem Jahr relegiert wurde, wahrscheinlich wegen Renitenz oder Eigenwilligkeit. Von da an arbeitete er als Autodidakt weiter und benannte sich später in Guston um, eine lautmalerische Umschreibung von „Goldstone“.
Neben den damaligen Kunstgrößen wie Giorgio de Chirico und Pablo Picasso faszinierten den jungen Guston vor allem die Maler der Renaissance, etwa Giotto oder Michelangelo, die er später mmer wieder in seinen Gemälden zitierte. Darüber hinaus wendete er sich schon früh den sozialen Verhältnissen in den USA zu, so der desolaten Lage der Afroamerikaner, die er in einer Bilderserie anprangerte. Diese Bilder wurden bei eienr Polizeirazzia zerstört und erfüllten damit auf makabre Weise ihren ursprünglichen, provokanten Zweck. Sein weiteres Leben verlief eher in geordneten Bahnen und enthielt sogar eine künstlerische Zusammenarbeit mit dem Militär. Kunstprofessuren und eine Reihe wichtiger Auszeichnungen gehörten ebenso zu seiner Vita wie heftige Auseinandersetzungen um seinen künstlerischen Stil. So brach sein Freund Morten Feldman, einer der führenden amerikanischen Musiker des 20. Jahrhunderts, aus diesem Grund mit ihm.
„Gustons malerisches Werk ist von pessimistischen, düsteren Elementen geprägt, die teilweise traumatischen Charakter annehmen. Fast jedes Bild enthält einen mehr oder minder dominanten Anteil an kräftigem Cadmium-Rot, das auch mal zu einem Altrosa aufgehellt wird und mit Vorliebe mit weißen Elementen kontrastiert. Andere Farben setzt Guston nur sehr sparsam ein. Neben der farblichen Komponente sind vor allem die figurativen Aspekte entscheidend. Im Gegensatz zu der kühlen abstrakten Malerei vieler seiner Zeitgenossen stellt Guston er in jedem Bild einen deutlich erkennbaren Gegenstand dar, den er allerdings durch geradezu krude malerische Mittel verfremdet und karikiert. Die Objekte seiner Bilder reduziert er auf das Wesentliche, wobei er vor allem die zerstörerischen Seiten in Gestalt allegorischer Zitate darstellt. Seine Bilder schreien buchstäblich einen wütenden Protest gegen Gewalt, Krieg und Leid aller Art heraus. So zeigt das Bild „Discipline“ eine Reihe von Schuhsohlen offensichtlich liegender menschlicher Figuren, über denen eine Hand mit einerm blutigen Knüppel schwebt. Ein anderes Bild zeigt den Künstler selbst als Schlafenden, der eher an eine Obdachlosen an einer Straßenecke erinnert. In mehreren Bildern verhüllt er die Menschen – auch den Künstler! – in Ku-Klux-Klan-Gewänder, womit er gegen die rassistischen Auswüchse der sechziger und siebziger Jahre vor allem in den Südstaaten protestiert.
Einen weiteren Schwerpunkt bilden die Zeichnungen, die ja auch als Cartoons den Beginn seiner künstlerischen Karriere markierten und sich später in Illustrationen von Büchern verschiedener Autoren niederschlugen. Alle diese Zeichnungen zeigen Merkmale von Comics bis hin zu Sprechblasen und narrativen Strukturen. Immer wieder betonte Guston, dass er mit seinen Bildern Geschichten erzählen wolle. Er bestritt auch vehement, dass es nicht-figurative („nonobjektive“) Bilder gebe, da man zumindest beim Malen immer einen konkreten Gegenstand, Menschen oder Zustand vor Augen habe, den es darzustellen gelte.
Als Philip Guston im Jahr 1980 starb, war er zwar in weiten Kreisen anerkannt und konnte auch auf viele Fürsprecher verweisen, doch gleichzeitig empfanden viele Kritiker seine Bilder als zu gegenständlich – und damit als anachronistisch und veraltet – oder als zu grob und unkünstlerisch. Die Kunsthalle Schirn hat unter der Leitung der Kuratorin Dr. Ingrid Pfeiffer dafür gesorgt, dass dieser in Europa nicht so bekannte Künstler wieder in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt wird.
Die Ausstellung „Philip Guston. Das große Spätwerk“ ist vom 6. November bis zum 2. Februar 2014 dienstags sowie freitags bis sonntags von 10 bis 19 Uhr, mittwochs und donnerstags von 10 bis 22 Uhr geöffnet.
Frank Raudszus
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