Paul Auster: „Sunset Park“

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1301_sunset_park.jpgSchuld und Sühne auf New Yorker Art

Am Beginn und am Ende dieses Romans steht jeweils eine Unbeherrschtheit des Protagonisten, einmal erklärbar, einmal entschuldbar. Beide rahmen eine Handlung ein, die im Grunde genommen nur aus der Abarbeitung eines Schuldgefühls besteht, die ungewollt Menschen verletzt und damit wieder Schuld mit sich bringt. Im Mittelpunkt steht ein junger Mann, der mit dieser Situation leben muss und an ihr wächst.
Miles Heller räumt in Florida die Häuser von Bankrotteuren aus, die infolge der Finanzkrise ihre Hypotheken nicht mehr bedienen konnten und ihre Häuser verlassen mussten. Sein einziges Hobby besteht darin, die teilweise mehr als unappetitlichen Hinterlassenschaften der ehemaligen Bewohner vor der Entsorgung zu fotografieren und sich damit eine Bildergalerie von Dingen anzulegen, die niemand mehr braucht. Schnell merkt der Hörer, das Miles nicht in das Team von einfachen Arbeitern passt, denn seine Liebe gilt der Literatur, und er liest in jeder freien Minute. Zufällig lernt er im Park eine junge Exilkubanerin kennen, die das gleiche Buch wie er liest. Schnell verlieben sich die beiden ineinander, und das minderjährige Mädchen zieht zu ihm. Doch dessen älterer und grundsätzlich eifersüchtiger Schwester passt das Liebesverhältnis nicht, und sie droht, Miles wegen Verführung einer Minderjährigen anzuzeigen, wenn er nicht aus seinen Hausräumungen für sie wertvolle Dinge abzweigt. Als zwei kubanische Hünen ihm diese Botschaft mit einem gezielten Fausthieb buchstäblich in den Leib hämmern, muss er aus Florida flüchten.
Mittlerweile hat der Hörer auch erfahren, dass Miles Sohn eines New Yorker Verlegers und einer bekannten Schauspielerin ist, die nach der Scheidung in Los Angeles lebt. Er selbst hat als Sechzehnjähriger bei einem Streit an einer Straße den Sohn seiner Stiefmutter gestoßen, sodass dieser unglücklich vor ein plötzlich mit überhöhter Geschwindigkeit auftauchendes Auto fiel. Obwohl dies allgemeion als tragischer Unfall gewertet wird, hat Miles sein Literaturstudium abgebrochen und sein Elternhaus mit unbekanntem Ziel verlassen, um für seine vermeintliche Schuld mit einfacher Handarbeit auf unterstem Niveau zu büßen. Sieben Jahre ist er von Job zu Job durch verschiedene Bundesstaaten gezogen, bis er in Florida gelandet ist. Jetzt jedoch erinnert er sich an seinen alten Freund Bing, der in einem heruntergekommenen Haus im ärmlichen Viertel Sunset Park des New Yorker Stadtteils Brooklyn wohnt. Bing hat dort zusammen mit zwei jungen Frauen, einer Immobilienmaklerin und einer Doktorandin der Literatur, das leerstehende Haus einfach besetzt und betreibt neben seiner Musik einen Laden, in dem er alte Dinge wie mechanische Schreibmaschinen und Röhrenradios repariert. In diese fragwürdige aber durchaus herzliche Idylle zieht Miles aus Not ein, denn die drohende Strafe in Florida und seine geringen Ersparnisse erlauben ihm keine großen Sprünge. Seinen Vater würde er schon aus Stolz nie um Hilfe bitten, denn er fühlt sich der Familie gegenüber immer noch schuldig.
Auster stellt die einzelnen Bewohner dieser Bruchbude in jeweils nach ihnen benannten Kapiteln vor. Da ist einmal Bing, rebellischer Rockmusiker Ende zwanzig, der mit der amerikanischen Gesellschaft hadert und sich nicht auf deren ökonomische und politische Anforderungen einlassen will. Für seinen alten Freund Miles würde er alles tun, aber mit den Frauen hat er kein Glück, was für Außenstehende auch auf seine kompromisslose, zeitweise cholerische Art und sein ungepflegtes Äußeres zurückzuführen ist. Er ist der „spiritus rector“ des kärglichen Heims und beruhigt seine Mitbewohner jedes Mal, wenn sie Angst vor einer Polizeirazzia haben. Dann ist da Ellen, ebenfalls Ende zwanzig, die einst studierte, durch eine ungewollte – und abgebrochene – Schwangerschaft aus der Bahn und dem Studium geworfen wurde und jetzt dem ungeliebten Beruf einer Immobilienmaklerin nachgeht. Sie ist seit ihrer ungücklichen Liaison unfreiwillig Single und leidet darunter bis hin zu drohenden Depressionen. Alice dagegen ist dem Leben zugewandt, geistreich und robust. Doch ihre Beziehung zu dem egozentrischen Lehrer und Möchtegern-Schriftsteller Jake leidet bereits an Auszehrung, nicht zuletzt wegen dessen Ichbezogenheit. Sie schreibt an ihrer Doktorarbeit über Stereotypen und Muster in frühen Nachkriegsfilmen und arbeitet nebenher beim PEN-Zentrum.
Paul Auster beschreibt das Leben dieser vier jungen Leute in ihren prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen und zeigt dem Leser damit ein ungeschminktes Bild der Realität im angeblich so „hippen“ New York. Die Kargheit der Lebensverhältnisse vor allem in diesem Teil Brooklyns und die unsicheren Zukunftsaussichten auch für qualifizierte junge Menschen kommen sozusagen „en passant“ zur Sprache, ohne dass Auster zur Keule der pathetischen Anklage greifen muss. Denn im Vordergrund stehen die ganz konkreten Problem von Miles, der einerseits die Zeit bis zur Volljährigkeit seiner Freundin irgendwie finanziell überbrücken muss und sich andererseits nach ihr sehnt. Sein zweites großes Problem ist seine Familie, der er sich nach Jahren des Verschwindens wieder annähern will. Doch immer noch steht er unter dem Druck seiner Schuld, die er weder seinem Vater noch seiner Stiefmutter eingestanden hat. Eine Rückkehr ist aus seiner Sicht nur mit dem Eingeständnis dieser Schuld möglich.
Der Prozess der Selbstfindung verläuft bei Miles Heller ohne die (melo)dramatischen Konflikte, die den gängigen Familien- und Gesellschaftsromanen ein so großes Publikum bescheren. Hier schreit man sich nicht an, bringt sich gegenseitig nicht fast um, trägt Konflikte nicht mit der großen Geste aus. Die Entwicklung der Personen und ihrer Beziehungen erfolgt in kleinen, oft banalen Schritten, die jedoch immer wieder auf die Unsicherheit und die Verletzlichkeit der Menschen verweisen. So verbirgt Ellen mit ihrer zeitweiligen Distanzierung oder Abwesenheit nur ihre Sehnsucht nach Nähe und einer Liebesbeziehung, Alice leidet darunter, dass sie immer die Lebenslustige und Starke spielen muss, und Bing überspielt seine erotische Orientierungslosigkeit mit gepielter „Coolness“. Doch alle entwickeln auch Überlebensstrategien für ihr Ego: Ellen beginnt nach eher naiven Malereiversuchen mit so kompromisslosen wie konsequenten Aktzeichnungen und befreit sich damit auch von sexuellen Verklemmungen und erotischen Obsessionen; Bing versucht, seine erotische Orientierung in der Praxis zu erproben. Miles wiederum muss den schwierigen Gang zu seinen Eltern gehen und die von ihm abgebrochenen Beziehungen wieder zusammenfügen. Das ist nicht einfach, da er Verletzungen hinterlassen hat, die nicht einfach zu übergehen sind, doch am Ende findet Auch er wieder zurück in den „Schoß“ der Familie. Allerdings nicht mit einem kinogerechten „Happy End“ sondern ausgerechnet mit einer Tätlichkeit an einem Polizisten, für die er wohl noch den Kopf wird hinhalten müssen. Am Ende steht ein fragiler Familienfrieden, denn sein Vater hält zwar trotz seiner langen „Auszeit“ fest zu ihm, doch seine Stiefmutter kann ihm den tödlichen „Schubser“ auf der Straße nicht verzeihen.
Paul Auster vermeidet in diesem Gesellschafts- und Familienbild jegliches reißerisches oder klischiertes Element. Er lässt allen Protagonsiten Gerechtigkeit widerfahren, auch der kapriziösen und launenhaften Mutter von Miles, die einst die Familie verließ, um sich ganz der Schauspielerei zu widmen, und auch ihrem dritten Ehemann, einer Figur, die in konventionellen Familienromanen gern als negativer Archetypus daherkommt. Die jungen Leute haben zwar Findungs- und Identitätsprobleme, aber sie beweisen Standkraft und auch Solidarität untereinander. Nirgends findet man bei Paul Auster den Tenor „früher war alles besser“, aber im Gegenzug verklärt er auch nicht die Jugend auf Kosten der angeblich verknöcherten, reaktionären Generation der Eltern. Die Figuren erhalten bei Auster durchweg ganz eigene, glaubwürdige und durchaus liebenswerte Charaktere.
Burghart Klaussner liest den Roman mit viel Einfühlungsvermögen für die einzelnen Charaktere und ihre ganz persönlichen Probleme und Sehnsüchte. Erstaunlich vor allem, wie es ihm als Mann gelingt, die Befindlichkeiten der Frauen überzeugend zu gestalten.
Das Hörbuch umfasst sechs CDs mit einer Gesamtlaufzeit von 423 Minuten, ist im Audio-Verlag unter der ISBN 978-3-86231-165-1 erschienen und kostet 24,99 Euro.

Frank Raudszus

 

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