Götz Aly: „Warum die Deutschen? Warum die Juden?“

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Eine neue Analyse der deutschen antisemitischen Katastrophe

Die Zeit des Dritten Reiches von 1933 bis 1945 ist eines der dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte, das mit der wohl größten Katastrophen der Menschheit geendet hat, nämlich der generalstabsmäßig organisierten und durchgeführten Vernichtung der Juden. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat sich eine Flut von Büchern in- und ausländischer Autoren zu diesem Thema über die Welt ergossen, so dass man mit einigem Recht fragen könnte, warum ein Autor dieses Thema nahezu siebzig Jahre nach dem Ende der düsteren Epoche noch einmal angeht, und dazu noch mit der provokativen Titelfrage „Warum die Deutschen? Warum die Juden?“
Der Journalist und Historiker Götz Aly versteht sich nicht als wissenschaftlicher Epigone, der sich in den letzten Ecken eines historischen Themas bewegt, um dort noch einige wissenschaftliche Krumen  hervorzukehren. Er bürstet seine Themen gerne gegen den Strich, wie er es unter anderem in dem Buch „Unser Kampf“ (nomen est omen) getan hat, das die 68er-Generation kritisch unter die Lupe nahm und damit bei den Betroffenen heftige Abwehrreaktionen auslöste,
Götz Aly hat bei seiner Lektüre der „Holocaust“-Literatur festgestellt, dass vor allem deutsche Autoren das Bild einer absolut „bösen“ Nazi-Clique pflegten, die ein ganzes Volk verführten. Je nach politischer Ausrichtung halfen interessierte Kreise dieser Clique an die Macht und zogen ihre Vorteile daraus. Die Linke hat dabei die „werktätige Masse“ gerne als die Betrogenen und Verführten und die Vertreter von Hochfinanz und Industrie als die natürlichen Verbündeten der Nazis dargestellt. Bürgerliche Autoren wiederum sahen eher die Anfälligkeit breiter Unterschichten für die Versprechungen Adolf Hitlers und seiner Gefolgschaft als Grund für dessen Erfolg und nahmen für sich höchstens Naivität und Bagatellisierung in Kauf. Für alle galt: ab einem bestimmten Punkt konnte man wegen der Gewaltherrschaft nichts mehr ausrichten, und von den Greueltaten an Juden hat sowieso niemand etwas gewusst – höchstens vage geahnt. Götz Aly deutet diese Haltung als den Versuch der Bevölkerung – durch alle Schichten! -, sich von persönlicher Schuld zu befreien und diese stattdessen an andere zu delegieren. Das trifft auch für nachgeborene Exegeten zu, die sich von der Schuld sozusagen in Sippenhaft genommen fühlen. Wer gibt schon gerne zu, dass der eigene Vater oder Großvater der Judenvernichtung begeistert zugestimmt hat.
Götz Aly geht das Thema wesentlich analytischer und grundsätzlich an, indem er den Antisemitismus und speziell seine deutsche Variante untersucht. Der Antisemitismus kann in ganz Europa auf eine lange unrühmliche Geschichte zurückblicken, an der letzten Endes die Kirche einen erheblichen Anteil hat. Die Juden haben Jesus Christus umgebracht und waren deshalb geächtet. Also konnte man ihnen auch andere Untaten in die Schuhe schieben und eigene Verfehlungen auf sie umlenken. Juden-Pogrome haben seit der ersten Jahrtausendwende in regelmäßigen Abständen und unterschiedlichem Ausmaß stattgefunden.
Wenn dem so ist, kann man sich natürlich fragen, warum es in anderen Ländern Europas zwar zu der „gängigen“ Verfolgung, Entrechtung, Enteignung und auch Ermordung von Juden gekommen ist, jedoch nie zu einer geradezu industriell organisierten Vernichtung des ganzen jüdischen Volkes, wenn man von einem solchen reden kann. Götz Aly stellt sich diese Frage und liefert dazu auch Antworten.
Er beginnt seine Analyse im frühen 19. Jahrhundert, als Deutschland ein Flickenteppich von Kleinststaaten war, die wegen ihrer Schwäche besonders unter den napoleonischen Kriegen gelitten hatten. Das Gefühl mangelnder nationaler Einheit und Stärke suchte sich schon früh ein Ventil, und was lag näher, als hier schon die Juden als Außenseiter zu brandmarken. Diese waren bereits damals wegen ihrer systematischen Diskriminierung hinsichtlich vieler Berufe notgedrungen wesentlich flexibler und kosmopolitischer als der Durchschnittsdeutsche, und der daraus folgende wirtschaftliche und auch intellektuelle Erfolg war vielen Deutschen ein Dorn im Auge. So grenzten verschiedene Vertreter der Romantik bereits damals die Juden vom romantisch stilisierten Deutschtum aus. Als nach den napoleonischen Kriegen vor allem Preußen den Juden wesentlich mehr bürgerliche Rechte und Freizügigkeit einräumte, nutzten diese die Gelegenheit umgehend für wirtschaftliche Aktivitäten. Der unausbleiblich sich einstellende Erfolg heizte den Neid der eher bodenständigen und passiven Deutschen an. Über die Konstruktion nationaler Reinheit konnte man erst Fremde überhaupt und dann speziell Juden ablehnen. Aly zeigt, wie Minderwertigkeitsgefühle und Neid in dem eher kleinbürgerlich-ängstlichen Biotop deutscher Duodez-Untertanen eine unheilvolle Symbiose eingingen und sich bis zur Reichsgründung 1871 festigten. Auch deutsche Philosophen und Literaten der Romantik und des Biedermeiers waren nicht frei davon und versetzten die Juden in ihren Schriften mit fast naiver Selbstverständlichkeit in die Rolle unsympathischer weil angeblich egoistischer und habgieriger Außenseiter.
Nach der Reichsgründung fiel zwar der nationale Minderwertigkleitskomplex weg, aber die Mentalität der Deutschen hatte sich nicht geändert, während die schon immer im Geschäftleben aktiven Juden in einem plötzlich wesentlich größeren und homogeneren Deutschland bessere Bedingungen vorfanden und diese auch nutzten. Dazu schälte sich schon damals eine Grundhaltung der jüdischen Bevölkerung heraus: um ihren Kindern einmal ein besseres Leben zu ermöglichen, war Bildung erforderlich, denn nur diese führte angesichts der ständischen Bedeutungslosigkeit der Juden zum Erfolg. Und so sparten Juden nicht nur alles Geld für die Ausbildung ihrer Kinder, sondern hielten diese auch von Kindesbeinen zum Lernen an. Diese Faktoren führten schnell zu einer überproportionalen Präsenz der Juden in Führungspositionen, während die mehr dem traditionellen Stände- und Zunftdenken verhafteten Deutschen intellektuelle Fähigkeiten und besondere Bildung eher als dubios und unnötig betrachteten. Dem Deutschen galt laut Zitaten von Zeitgenossen(!) Fauheit als Innerlichkeit, Dummheit als edle Schlichtheit und mangelnde Eloquenz als Besinnlichkeit.
Götz Aly zitiert in seinem Rückblick zahlreiche Zeitzeugen jeglicher Couleur: gutbürgerliche Antisemiten, die den Juden in polemischer oder auch pseudo-wissenschaftlicher Manier besondere Eigenschaften zuschrieben, die für einen homogenen „Volkskörper“ gefährlich werden könnten: Intelligenz wird da zu Gerissenheit, Flexibliltät zur prinzipienlosen Wendigkeit und nüchterner Geschäftssinn zu blinder Habgier. Manche gingen sogar soweit, den Juden die gezielte Bildung ihrer Nachkommen als systematische Unterwanderungsstrategie vorzuwerfen. Der nationale Minterwertigkeitskomplex hatte sich zu einem gesellschaftlichen gewandelt, war aber deswegen eher noch stärker geworden, weil es nun nicht mehr um einen abstrakten Nationalitätsbegriff sondern um das eigene Ego und Selbstbewusstsein ging. Auf der anderen Seite kommen auch eine Reihe von Juden zu Wort, die den Antisemitismus ihrer deutschen Umwelt durchaus erkannten und treffsicher analysierten. Darunter befinden sich auch jüdische Autoren, die in Romanen eine bevorstehende „epochale“ Verfolgung der Juden bis hin zur vollständigen Auslöschung vorhersagten. Diese Autorem begriffen dabei selbst nicht, wie nahe sie der späteren Realität waren, und gönnten sich noch so etwas wie Ironie oder humorigen Sarkasmus. Nur wenige zogen rechtzeitig die Konsequenzen und wanderten aus.
Die letzte Phase begann dann mit der Demütigung durch den Versailler Vertrag, die anschließende Inflation und schließlich die Weltwirtschaftskrise. Götz Aly zeigt anhand der vorhandenen Dokumente dieser Zeit, dass besonders die breiten Unterschichten nach oben strebten und auf dem Weg nach oben plötzlich auf die Juden trafen. Diese hatten aufgrund ihrer überdurchschnittlichen Bildung und ihres Ehrgeizes überproportional viele Führungsstellen inne. Als Ende der zwanziger Jahre viele Aufsteiger aufgrund der Depression ihre Arbeit verloren, nutzten die Nationalsozialisten diesen sozialen Zusammenbruch, um die Juden als Sündenböcke hinzustellen. Natürlich war das nicht nur eine wahltaktische Maßnahme sondern entsprach der inneren Einstellung der Naziführer und ihrer Gefolgschaft, die selbst aus enttäuschten Aufsteigern bestand. Bei dieser Schuldzuweisung standen die Nazis jedoch nicht allein. Auch die Linke sah in ihrem ideologischen Egalitarismus die herausragende Stellung der meisten Juden mit Missvergnügen, widersprach sie doch ihrer Forderung nach sozialer Gleichheit. Zwar hielten sich die Sozialisten bzw. Sozialdemokraten mit polemischen Ausfällen gegen die Juden zurück, sahen jedoch den Antisemitismus der breiten Masse als notwendigen Zwischenschritt zu einem egalitären Sozialismus und nahmen ihn deswegen hin, wie Aly in mehreren Zitaten belegt.
Die Deutschen nahmen auch die Vorteile, die ihnen durch die Arisierung der Wirtschaft und der intellektuellen Führungsschichten zufielen, gerne mit und beruhigten ihr schlechtes Gewissen, wenn es denn vorhanden war, mit dem Hinweis auf das freche Vordrängeln der Juden. Viele, vor allem die intellektuelle Mittelschicht, ahnten auch, dass die Juden nicht nur zu körperlicher Arbeit deportiert wurden. Aber man verdrängte die bösen Ahnungen und richtete sich in den neuen ökonomischen Möglichkeiten ein. Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges galten dann sowieso andere Prioritäten, und die nationalsozialistischen Führungsebenen verstanden es zunehmend, die wahren Ziele der „Lösung der Judenfrage“ soweit zu kaschieren, dass verdrängungswillige Büger nichts davon mitbekamen.
Götz Aly holt mit seinem Buch die Geschichte des deutschen Antisemitismus und des Holocaust aus der Tiefe des absolut Bösen zurück in die Banalität des Alltags. Nicht ein Ausbund an Niedertracht und Ideologie hat zur Ermordung von Millionen Juden geführt, sondern die allgemein verbreiteten Schwächen des Neides und der Missgunst. Das hat ihn von allen, die das Dritte Reich durch Verteufelung seiner Führungseliten auf eben diese reduzieren und das „breite Volk“ moralisch entlasten wollten, harsche Kritik eingebracht. Mag sein, dass die „Ausgrenzung des Bösen“ dieser Historiker eher aus dem Unterbewusstsein denn aus kühler moralischer Taktik entstanden ist, doch die heftigen Reaktionen auf Alys Buch haben gezeigt, dass er einen wunden Punkt getroffen hat. Dass man ihm seine Rückführung der historischen Katastrophe auf Neid und Missgunst der Durchschnittsbürger als „Bagatellisierung“ des Dritten Reiches und speziell des Holocaust vorwirft, ist ebenfalls nur als das Aufschrecken eines schlechten Gewissens zu verstehen.
In seinem Buch beschränkt sich Aly nicht auf die Darlegung einer neuen historischen Theorie, die allein dem Gedanken entspringt, sondern er führt für alle seine Hypothesen umfangreiches Quellenmaterial aus den verschiedenen Epochen an. Dabei verschont er weder angeblich große Politiker, die noch heute den Namen bedeutender Stiftungen zieren, noch seine eigenen Vorfahren, die sich in verschiedenen Ausprägungen ebenfalls als „Antisemiten des Alltags“ erwiesen haben. Ja, Aly zieht gerade seine älteren und jüngeren Vorfahren als unrühmliche Kronzeugen für seine Hypothesen an. Statt „de mortuis nihil nisi bene“ ruft er ihnen zwar keine posthumen Anklagen nach, zeigt aber deutlich, dass auch seine Familie – wie die meisten deutschen Familien – nicht gegen die Volkskrankheit Antisemitismus gefeit war.
Götz Alys Buch ist bei aller Nüchternheit und gerade wegen des Verzichts auf den erhobenen Zeigefinger ein Lehrstück für das Entstehen historischer Katastrophen aus den Niederungen banaler menschlicher Schwächen. Vielleicht trägt es ja dazu bei, die Gefahr einer Wiederholung zu vermindern.
Das Buch „Warum die Deutschen? Warum die Juden““ ist im S.Fischer-Verlag unter der ISBN 978-3-10-000426-0 erschienen, umfasst 352 Seiten und kostet 22,95 €.

Frank Raudszus
 

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