Hanns-Josef Ortheil liest im Literaturhaus Darmstadt aus seinem Roman „Erfindung des Lebens“

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Bericht über eine sprachlose Kindheit

Hanns-Josef Ortheil liest im Literaturhaus Darmstadt aus seinem Roman „Erfindung des Lebens“

Hanns-Josef Ortheil ist einer der meistgelesenen Autoren der zeitgenössischen Literaturszene. Seine Anhänger loben bei ihm vor allem seine genaue Beobachtungsgabe und seine Empathie mit den Außenseitern und Benachteiligten. Am 26. Juni hatte ihn das Literaturhaus Darmstadt zu einer Lesung eingeladen. Bekanntheitsgrad und Beliebtheit des Autors ließen sich schon vor der Lesung an dem Publikumszuspruch messen. Bereits eine halbe Stunde vor Beginn war der kleine Leseraum so gut wie gefüllt, und es mussten laufend Stühle zugestellt werden.

Hanns-Josef Ortheil (Quelle: Wikipedia)

Hanns-Josef Ortheil las an diesem Abend aus seinem Roman „Erfindung des Lebens“. Eigentlich hätte es bei diesem Buch der Romanform gar nicht bedurft, denn Ortheil beschreibt darin im Grunde genommen seine eigene Kindheit. Offensichtlich haben jedoch die gerichtlichen Streitereien verschiedener Autoren über angebliche Persönlichkeitsverletzungen in Autobiographien oder auch nur autobiographisch gefärbten Romanen Verlag und Autor veranlasst, aus dieser offensichtlichen Autobiographie einen formell und formal unverbindlicheren Roman zu machen.

Ortheil begann denn auch folgerichtig nicht mit der Lesung sondern erzählte frei über seine Kindheit in Köln. Er kam als fünftes Kind seiner Eltern zur Welt. Die Mutter war jedoch durch den frühen, kriegsbedingten(?) Tod der vier Brüder derartig traumatisiert, dass sie buchstäblich die Sprache verlor und mit der Familie nur noch über Zettel kommunizierte. Da der Vater den ganzen Tag arbeitete, wuchs der kleine Hanns-Josef – im Roman Johannes genannt – alleine neben einer stummen Frau auf und lernte natürlich auch das Reden nicht.

An dieser Stelle setzte die Lesung ein. In der ersten Passage berichtete Ortheil über das sprachlose Leben im Haus ohne Fernsehen, Radio und Besucher, das Außenseiterleben auf dem Kinderspielplatz und seine Ängste vor einer Umwelt, mit der der kleine Johannes nicht kommunizieren kann. Die Rettung kommt in Gestalt eines Klaviers, dass ein Onkel der Mutter vermacht. Hier erfährt Johannes zum ersten Mal, dass es ein akustisches Kommunikationsmittel gibt, mit dem man die eigenen Gefühle ausdrücken kann. Da die Mutter sehr gut Klavier spielt, erhält er nicht nur eine passive Hörausbildung sondern lernt bald wie von selbst das Klavierspielen von ihr – Lieder ohne Worte. Da ihn seine Sprachlosigkeit von den Gleichaltrigen trennt – die fehlende Sprache hat sich bei ihm längst zu einer Art Trauma entwickelt -, widmet er sich umso mehr dem Klavierspiel.

Ortheil wechselt fast unmerklich zwischen Lesung und Kommentaren. Im selben Tonfall, nur durch ein paar Worte angekündigt, erzählt er von den Schwierigkeiten in der Grundschule, die Gehässigkeiten der Mitschüler und die Machtlosigkeit der Lehrer. Als diese ihn auf eine Sonderschule schicken wollen, ergreift der Vater die Initiative, und Ortheil steigt an dieser Stelle wieder in die Lesung ein. Die folgende Passage handelt von seiner Befreiuung auf dem Lande, wo der kleine Roman-Johannes von einer bäuerlichen Großfamilie so aufgenommen wird, wie er ist, auf dem Feld mitarbeitet und mit dem Vater Feld und Wald durchstreift. Der Zuhörer erlebt, wie der kleine Johannes alias Hanns-Josef die Welt und die Wörter über das Zeichnen erfährt und zu benennen erlernt. Über das „Schreiben im Kopf“ lernt er das Schreiben auf dem Papier und kann dann plötzlich auch sprechen. Er zelebriert diese plötzlich aufscheinende Fähigkeit geradezu triumphierend in einem Moment, als seine Mutter die ganze Aufmerksamkeit mit ihrem Klavierspiel auf sich zieht und den kleinen Sohn damit an den Rand drängt. Mit diesem „coming out“ sorgt der kleine Junge nicht nur für eine familiäre Sensation, sondern schafft auch den Durchbruch zu einer normalen Kommunikation mit seiner Umwelt.

Wie sich dieses „erfundene Leben“ weiterentwickelt, kam in der Lesung nicht mehr zur Sprache. Doch die Zuhörer waren danach motiviert genug, sich das Buch zu besorgen, sofern sie nicht sowieso schon gelesen hatten und hier nur den Autor persönlich kennenlernen wollten. Eine lange Schlange von Interessenten wartete vor dem Autorentisch geduldig, bis der Autor ihr(e) Buchexemplar(e) eigenhändig signierte.

Wer die Lesung verpasst hat, dem können wir nach dieser Lesung das Buch zur Lektüre wärmstens empfehlen; nicht nur wegen der anschaulichen und humorvollen Schilderung der schwierigen familiären Situation sondern auch wegen der verbindlichen und offenen Art des Autors, der sich an diesem Abend in die Köpfe und Herzen der Besucher hineingelesen hat.

Frank Raudszus

 

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