Eine stille Hommage an einen großen Romancier
Im Mittelpunkt dieses Romans stehen 24 Stunden im Leben eines Mannes mittleren Alters. Die Handlung spielt sich zu Beginn eines Jahrhunderts in der Großstadt D. ab, und der Leser erlebt nicht nur einen ganz normalen Alltag des mittleren Angestellten, sondern erhält darüber hinaus ungefilterten Zugang zu all seinen Gedanken, Erinnerungen, Enttäuschungen, Sehnsüchten und flüchtigen Assoziationen. Der Gang des Protagonisten durch einen Tag seines Lebens mutet wie eine Irrfahrt – man könnte es auch eine „Odyssee“ nennen – durch das verworrene Geflecht der Welt und der Beziehungen an und folgt keinem Ziel, wie es etwa der Thriller oder der Entwicklungsroman tun. Der Autor setzt sich nicht über seine Hauptperson sondern verschmilzt mit ihr, ohne dass man daraus unmittelbare autobiographische Schlüsse ziehen könnte. Ihm geht es viel mehr um die fast mikroskopische Nachbildung der Befindlichkeit eines Menschen in seiner Zeit und Umwelt, jedoch ohne vordergründige moralische Urteile oder Botschaften.
Der Leser begleitet den Protagonisten auf seinem Gang zu seinem Büro in einer kulturellen Institution, zu einem Treffen mit Vorgesetzten, Kollegen und wichtigen Persönlichkeiten, zum Mittagessen mit Freunden, auf den Friedhof ebenso wie zu einer Prostituierten, und am Ende des Tages steht ein langer, mit schnell wechselnden Assoziationen und Erinnerungen gefüllter innerer Monolog, der direkt in den Schlaf übergeht.
Wer jetzt deutliche Wiedererkennungseffekte vermeldet, den müssen wir enttäuschen. Die Hauptperson dieses Romans verkauft keine Zeitungsannoncen, und er wandelt auch nicht durch das Dublin des frühen 20. Jahrhunderts. Er arbeitet stattdessen als Kurator in einem Düsseldorfer Kunstmuseum der Jetztzeit und hat gerade eine Ausstellung über Malerei vorbereitet. Er lebt allein, nachdem er sich von seiner Frau getrennt hat und sie nur noch anlässlich der vereinbarten Besuche seiner kleinen Tochter trifft. Die Trennung erfolgte, weil sich Christof – so heißt der Protagonist – mit einer jungen Kollegin liiert hat. Christof ist Ende vierzig und mithin in einem Alter, in dem man spätestens die erste Lebensbilanz zieht. Seine derzeitige Lebensposition ist alles andere als stabil. Er fühlt sich schuldig wegen der Trennung, vor allem gegenüber seiner Tochter. Er stammt aus einer konservativen Familie mit fünf Söhnen, deren jüngster er ist, und setzt sich immer noch mit seiner vor kurzem verstorbenen Mutter auseinander. Nicht, dass die Familienatmosphäre gestört gewesen wäre, aber er hätte seiner Mutter noch einiges zu sagen, was nun nicht mehr geht. Stattdessen besucht er seinen Vater im Altersheim, der jedoch bereits unter zeitweisen Gedächtnislücken leidet, obwohl er als alter Philologe seinen Shakespeare immer noch auswendig zitieren kann. Auch ihm gegenüber verspürt Christof ein schlechtes Gewissen, weil die Pflichtbesuche selten über den berühmten „Smalltalk“ hinausgehen. Bei den Besuchen, sei es beim Vater oder am Grab der Mutter, schießen immer wieder Erinnerungen an Kindheit und Jugend hoch und machen genauso schnell anderen Assoziationen Platz.
Die Frauen haben stets eine große Rolle in Christofs Leben gespielt, obwohl es nach außen nie so aussah. Zwei große Lieben hat er als junger Mann erlebt, und beide wurden nicht erwidert. Heute ist ihm klar, dass sein Misserfolg zum großen Teil auf seine Schüchternheit zurückzuführen war. Zwar hat er diese Schüchternheit später als sein „Markenzeichen“ getragen und damit bei anderen Frauen Erfolg gehabt, aber das Scheitern seiner Jugendlieben hängt ihm heute noch nach. Seine Erkenntnis dazu lautet: „Wer seine erste Liebe verpasst, für den ist schon alles verloren!“. Das erinnert ein wenig an Kafkas Nachtglocke. Kurz vor dem Schluss kommt Rubart alias Krumbholz dann zu dem Schluss, dass nicht nur er sich für „klüger, phantasievoller, romantischer gehalten hat als den Rest der Menschheit“, sondern „dass das den meisten Zeitgenossen nicht anders ergeht“. Eine so selbstironische wie treffende Beobachtung des Autors.
Die Bedeutung der Frauen in diesem Roman kulminiert nicht etwa in den Liebesszenen mit seiner jetzigen Geliebten, sondern in einer so grotesken wie archetypischen Szene mit einer Prostituierten, die letztlich das heimliche Idealbild der Frau in den Männerköpfen darstellt. Diese Frau ist jung, schön, intelligent und liebt die Sexualität um ihrer selbst willen – natürlich nur mit ihr sympathischen Männern. Sie nimmt zwar Geld, fordert aber keine Gegenleistung wie Treue und Übernahme von Verantwortung. Die gepflegte, geistreiche Kurtisane als Traumbild des Mannes: Krumbholz malt dieses Ideal mit einer stillen Ironie, aber ohne moralischen Zeigefinger oder gar chauvinistische Begeisterung aus.
Wie sein stilles, nur durch die Konstruktion des Romans erkennbares Vorbild geht Krumbholz auch auf die ihn umgebende Gesellschaft, speziell die kulturelle ein. Zu Rubarts Freundeskreis gehören ein Kulturkritiker und ein Computerexperte, Exponenten zweier fast antagonistischer Lebensbereiche. Der erste zeichnet sich durch sein kulturelles Wissen, seine Eloquenz und seine nie versiegende Eitelkeit aus, der zweite zeigt hinter der Fassade einer biederen Bodenständigkeit einen lebensnahen Pragmatismus und praktische Hilfsbereitschaft. Rubarts Vorgesetzter, der Museumsdirektor, kommt als Weiser vorgerückten Alters daher und trägt den sinnreichen Namen Senzacolpa. Unbefleckt von der groben Realität des Alltags schwebt er durch die Kulturlandschaft und ist dem Schönen und Wahren zugetan. Das Pendant dazu stellt die engagierte, aber mittellose Künstlerin dar, die sich nicht beschwert und jeden Morgen von Neuem ihrer wenig Erfolg versprechenden Kunst frönt.
Der Titel des Romans verweist – wie das Vorbild – auf einen mythischen Hintergrund: die Passionsgeschichte vom Abendmahl bis zur Kreuzigung. Auch dieser Roman beginnt mit dem Abendessen Rubarts und seiner Geliebten. Er endet zwar nicht mit einer Art Kreuzigung, dennoch stellt sich der Gang des folgenden Tages als eine „kleine Passion“ dar, wenn Rubart nacheinander die Stationen seiner Niederlagen und Fehler Revue passieren lässt: den im Altersheim vernachlässigten Vater, die verlassene Ehefrau und alleingelassene Tochter, die nicht einfache Beziehung zur neuen Freundin und die eigenen Unzulänglichkeiten im Umgang mit der Welt. In einer in ihrer Unheimlichkeit an den Besuch des Odysseus in der Unterwelt erinnernden Szene trifft Rubart bei einem Fest auf einen seltsamen Fremden, der ihn bis auf das Knochenmark durchschaut und ihm kryptisch-kluge Ratschläge für das Leben erteilt. Diese Schlüsselszene weckt Assoziationen an Mephisto und Faust ebenso wie an die seltsamen Figuren in den Geschichten von E.T.A Hoffmann und lässt sich als Symbol für eine Selbsterkenntnis interpretieren, die manchmal überfallartig und mit konsequenter Kompromisslosigkeit eintritt.
Martin Krumbholz ist mit seinem Debutroman ein kleiner Geniestreich gelungen. Die Nähe zu dem großen Vorbild ist unverkennbar, ohne Züge des Plagiats zu tragen. Der Erstling des Autors ist eher als Hommage an den großen Iren zu verstehen und kommt diesem in seinen besten Stellen gleich. Doch Krumbholz hütet sich vor dem Anspruch des allumfassenden Jahrhundertromans. Sowohl hinsichtlich Umfang als auch Thematik bleibt er stets im Rahmen des lokalen Umfelds eines heutigen Zeitgenossen, skizziert das Leben eines „intellektuellen Durchschnittsmenschen“, als den er sich selbst betrachtet, und gerade diese Bescheidung verleiht dem Roman mehr literarische Glaubwürdigkeit als jeglicher Versuch, die letzten Probleme der Menschheit tiefschürfend zu erkunden – und zu lösen.
Das Buch „Eine kleine Passion“ ist im Verlag CH. Schroer in der Reihe „neudeutsch“ unter der ISBN 978-3-954-45021-3 erschienen, umfasst 207 Seiten und kostet 17,99 .
Frank Raudszus
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