Mit diesem Buch legt der Autor verschiedener richtungsweisender Bücher eine umfangreiche Untersuchung über ein in der Moderne lange ausgespartes, weil nicht zukunftsträchtiges Thema vor. Dabei geht er ausgesprochen systematisch vor und seziert den Begriff buchstäblich, indem er ihn nach allen Regeln der Kunst zerlegt und aus allen Perspektiven beleuchtet. Für eilige Leser fasst er in einer längeren Einleitung die wichtigsten Aussagen zusammen.
In seinen Überlegungen konzentriert er sich auf die westliche Moderne, genauer auf die Zeit nach der Aufklärung, wobei er den Schwerpunkt auf die klassische und vor allem die Spätmoderne – also heute – legt. Eher kursorisch behandelt er die frühe Neuzeit und das Mittelalter, denen er beiden eine statische Weltsicht mit der Verlagerung aller Hoffnung ins Jenseits – Paradies oder Hölle – zuschreibt. Erst die Aufklärung definierte eine Zukunft und legte die Verantwortung für sie in die Hände der Menschen. Damit etablierte sich ein Fortschrittsglaube, der lange Zeit trotz Krieg und Katastrophen ungebrochen schien. Die in der jüngeren Moderne – „Spätmoderne“ – einsetzende Skepsis an diesem „Fortschrittsimperativ“, wie er ihn nennt, führte dann zu einer Zunahme und Schärfung des Verlustempfindens.
Reckwitz verweist dabei schon zu Beginn auf ein Paradox dieses Fortschrittimperativs, das darin besteht, dass gerade der realisierte Fortschritt immer mehr „Veraltetes“ erschafft, dass es zu ersetzen gilt. Das wird jedoch oft als schmerzender Verlust empfunden, vor allem bei älteren oder sozial eher konservativ orientierten Kreisen. Der optimistisch in die Zukunft schauende Fortschritt schafft sich also ungewollt seinen eigene Gegner. Je schneller die – technische und gesellschaftliche – Entwicklung, umso stärker das Verlustempfinden. Nicht umsonst konstatiert Reckwitz gerade im letzten, von rasanter Digitalisierung und KI geprägten Jahrzehnt gesteigerte Verlustdiskurse.
Doch bis zu dieser Erkenntnis führt er die Leser durch eine Erkundung des gesamten Verlustspektrums. Dabei unterscheidet er zwischen individuellen und sozialen Verlusten, die sich zum Teil auch überschneiden. Der Verlust naher Angehöriger gehört sicher in die erste Kategorie, kann sich aber aufgrund der Ursachen leicht in die letztere verlagern. Für den stets eine leuchtende Zukunft ansteuernden Fortschrittsimperativ stellt der Tod die größte narzisstische Kränkung dar, die auch kaum zu kompensieren ist.
Die Affekte, mit denen die Gesellschaft auf Verluste reagiert, reichen von der individuellen Trauer über Neid, Wut und Angst bis hin zur Empörung mit all ihren gesellschaftspolitischen Auswirkungen. Dabei entwickelt sich laut Reckwitz oft eine Polarisierung in Verlierer und Gewinner des Fortschritts, die von ersteren für aggressive Ressentiments gegen letztere benutzt werden, oft mit Unterstützung politisch interessierender Institutionen wie Parteien. In diesem Kontext geht Reckwitz auch auf den Populismus ein.
Eingehend diskutiert Reckwitz den Umgang der Moderne mit konkret eintretenden Verlusten. Eine Möglichkeit besteht in der Bagatellisierung, die soziale oder politische Rückschläge als kurzfristige Dellen im unaufhaltsamen Fortschritt darstellt. Man kennt das – nicht nur! – aus den Zeiten des real existierenden Sozialismus. Im individuellen Bereich werden materielle Verluste gerne dem Individuum im Sinne einer – endgültigen – Scheiterns zugeschrieben, das sich jedoch im kompensatorischen Sinn wiederum als reversible Niederlage umdeuten lässt.
Detailliert geht Reckwitz auf die Verlustpraktiken ein, mit denen die Betroffenen, aber auch eine auf Ausgleich besorgte Öffentlichkeit bis hin zur Politik, sich gegen konkrete Verluste schützen. Da ist etwa das aktive Erinnern bis hin zur verklärenden Nostalgie, mit dem das Verlorene scheinbar zurückgeholt wird. Das kann jedoch wiederum die Angst vor zukünftigen Verlusten schüren, was wie ein konkreter, Verlust empfunden wird und den Fortschrittsglauben schwächt. So schwächt sich der Fortschrittsimperativ auf paradoxe Art selbst.
Reckwitz sieht mit zunehmendem Fortschrittstempo auch die Verluste wachsen, und sei auch „nur“ der gesellschaftliche Status, etwa des Industriearbeiters, betroffen. Diese größere Gruppen betreffenden Verluste erfordern dringend eine „Verlustreduktion“, um den Glauben an den Fortschritt aufrecht zu erhalten. Das kann politisch-ökonomisch durch Versprechungen materieller Kompensation und Versicherungen erfolgen oder auch durch Externalisierung, indem man „Schuldige“ findet, in letzter Konsequenz die Betroffenen selbst. Wenn eine konkrete Verlustreduktion nicht möglich ist, erfolgt eine Verlustinvisibilisierung, die verloren gegangene Dinge als „veraltet“ bezeichnet und damit den Verlustcharakter leugnet. Auch eine „Vermarktlichung“ sieht Reckwitz walten, die vermeintliche „Werte“ dem Konkurrenzdenken des Marktes unterwirft und damit relativiert.
Ein für die Spätmoderne typische Erscheinung sind die Kaskadeneffekte größerer Verluste. Als Beispiele seien Wegfall von Arbeitsplätzen durch Digitalisierung, soziale Effekte von Finanzkrisen oder der Klimawandel genannt, die aufgrund ihrer horizontalen Wirkung entsprechende flächendeckende Verluste nach sich ziehen können.
Ein weiterer paradoxer Effekt besteht für Reckwitz in der „Erwartungsexpansion“. Die Versprechungen des Fortschrittsimperativs führen zu gesteigerten – und oft unrealistischen – Erwartungen, deren auch nur drohende Nichterfüllung schon als Verlust empfunden wird. Dazu kommt die zunehmende Sensibilisierung für Verluste, die gerade im Zuge der aufkommenden Gerechtigkeitsdiskurse in den Vordergrund treten. Reckwitz nennt hier die Aufarbeitung der Kolonialgeschichte oder ähnliche historische Verluste größerer sozialer Gruppen. In diesem Zusammenhang diskutiert er auch die Bedeutung der „Opfer“, die in der klassischen Moderne noch unter einem abträglichen Ruf litten, heute jedoch mit anderen geradezu um den Opferstatus konkurrieren. In diesem Kontext werden natürlich vergangene und aktuelle Verluste besonders hervorgehoben, die früher als unvermeidliche Kollateralschäden abgewertet wurden.
Für die Spätmoderne ab dem frühen 21. Jahrhundert notiert Reckwitz geradezu „Verlustschübe“. verantwortlich dafür macht er den immer sichtbarer werdenden Klimawandel, die geopolitische Situation, die Migration und die technische Entwicklung, um nur einige zu nennen. Die Kommunikationstechnologien – Stichwort: Internet – leisten dabei für die rasche Verbreitung ihren eigenen Beitrag und kreieren auch dort Verlustempfindungen, wo keine konkreten Verluste vorliegen. Diese Kombination weltweiter Effekte führen dazu, dass der Fortschrittsglaube abnimmt und damit die Verlustaffinität weiter steigt.
Im Rahmen dieser Rezension lassen sich die einzelnen Themengebiete nur stichpunktartig abhandeln. Zwar wiederholen sich einzelne Thematiken in leicht abgewandelter oder zugespitzter Form in den drei großen Kapiteln des Buches – „Was sind Verluste“, „Verlustparadoxie“ und „Verlusteskalation“ -, doch das tut der Konsistenz keinen Abbruch, sondern führt eher zur Zuspitzung und Schärfung der jeweiligen Ausführungen. Reckwitz hat mit diesem Buch ein in dieser Form noch nicht diskutiertes Thema definiert und akribisch aufgearbeitet. Wer sich kompetent über die gesellschaftliche Struktur unserer Zeit informieren möchte, dem sei dieses Buch wärmstens empfohlen.
Es ist im Suhrkamp-Verlag erschienen, umfasst 464 Seiten und kostet 32 Euro.
Frank Raudszus
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