Zwei Jahre lang lag Wolfram Eilenbergers „Zeit der Zauberer“ auf meinem Schreibtisch auf dem Stapel der unbedingt zu lesenden Bücher. Nun habe ich mich endlich daran gemacht und mich auf Eilenbergers Darstellung der philosophischen Ansätze von Ernst Cassirer (1874 – 1945), Ludwig Wittgenstein (1889 – 1951), Martin Heidegger (1889 – 1976) und Walter Benjamin (1892 – 1940) eingelassen. Und meine Mühe wurde belohnt. Eilenberger gelingt es, die komplexen philosophischen Fragestellungen auch für Nicht-Philosophinnen und – Philosophen verständlich zu vermitteln, ohne dabei zu vereinfachen. Dabei verknüpft er stets auch die jeweilige lebensgeschichtliche Situation der Philosophen mit der Entwicklung ihrer Denkansätze. Das liest sich streckenweise nahezu spannend, so dass ich zeitweise in Gefahr war, zu schnell weiterzulesen. Nötig war es stattdessen, immer wieder innezuhalten, ein Kapitel zu verdauen und – soweit möglich – auch die zitierten Originaltexte zu lesen.
Bislang waren mir zwar die Namen der Philosophen bekannt, ihre theoretischen Ansätze aber nur sehr vage und nur andeutungsweise.
Alle vier Philosophen treibt die Auseinandersetzung mit der Moderne um. Es geht ihnen um eine Neuausrichtung des philosophischen Denkens, Benjamin, Heidegger und Wittgenstein insbesondere um Überwindung der bildungsbürgerlichen Tradition des akademischen, an Kant orientierten philosophischen Wissens. Sie haben die Philosophie des 20. Jahrhunderts maßgeblich geprägt.
Ernst Cassirer ist in dieser Reihe eher der Traditionalist, der als Professor fest im akademischen Leben der Universität Hamburg verankert ist. Ihm geht es nach Eilenberger um die „Vermittlung von tief verankerten Dualismen und scheinbaren Gegensätzen (…) wie: Innen und Außen, Leib und Seele, Gefühl und Vernunft, Geist und Materie, Gedanke und Wort, Mythos und Wissenschaft, Empirie und Metaphysik, Einheit und Vielheit, Mensch und Gott, Sprache und Kosmos“.
Cassirers Hauptwerk beschäftigt sich mit der Fähigkeit des Menschen, über sprachliche Symbole die Welt nicht nur zu benennen, sondern zu erschaffen.
Cassirer wird von Eilenberger als der akademisch solide Analyst der Möglichkeiten von Erkenntnisfähigkeit des Menschen dargestellt, nicht aber als ein radikal neu denkender Umstürzler. Seine Existenz ist bis in die privaten Beziehungen auf festen Boden gegründet. Als solcher wird er von seinen Zeitgenossen hoch geschätzt.
Cassirer hat für sich die berühmte Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg in Hamburg als die Schatzkiste menschlichen Wissens entdeckt. Eilenberger hat mir mit seiner Schilderung der Entstehung der Bibliothek und der faszinierenden Persönlichkeit ihres Schöpfers Moritz Warburg die Augen geöffnet, welcher geisteswissenschaftliche Schatz mit dieser Bibliothek in Hamburg existiert.
Umstürzler waren die anderen drei Protagonisten des Buches. Benjamin, Heidegger und Wittgenstein wollten die Philosophie mit radikal neuen Fragestellungen aus ihrer akademischen Gefangenschaft befreien und Gegenpositionen zu der vorherrschenden naturwissenschaftlich-empirischen Weltsicht entwickeln.
Heidegger treibt die Frage nach dem Dasein und dem Sein an sich um. Dasein sei immer gebunden an die zeitliche Dimension. Aus unserem zeitlich determiniertem Dasein ergebe sich erst die Frage nach dem Sinn des Seins überhaupt. Diese Frage führt ihn zu einer grundsätzlichen Destruktion der traditionellen Metaphysik. Die Frage nach dem Sinn müsse von der Erkenntnis des metaphysischen Nichts ausgehen. Erst daraus ergebe sich die Freiheit im Dasein.
Das Streben nach Freiheit sucht Heidegger auch in seinem privaten Leben, zum einen in der Überwindung bürgerlicher Moralvorstellungen, wie z.B. der ehelichen Treue, zum anderen in der regelmäßigen Rückkehr an seinen bäuerlichen Ursprung in der berühmten Schwarzwaldhütte. Bei aller Radikalität ist Heidegger materiell als schließlich ordentlicher Professor in Freiburg bestens abgesichert, auch mit der nationalsozialistischen Ideologie kann er sich arrangieren, passt doch das Völkische zu seiner Suche nach dem Ursprünglichen.
Ganz anders Wittgenstein: Er macht den ersten radikalen Schnitt materiell, indem er sein großes Vermögen seinen Geschwistern überträgt, um sich als Volksschullehrer in einem österreichischen Dorf selbst zu ernähren und damit gleichzeitig frei zu sein für einen Neubeginn. Die radikal karge Existenzform entspricht seinem radikalen Denkansatz, den er in dem thesenartig verfassten „Tractatus logico-philosophicus – Logisch-philosophische Abhandlung“ entwickelt. Ich will hier gar nicht versuchen, Wittgenstein zu verstehen, was nicht einmal vielen seiner philosophischen Zeitgenossen gelungen ist. Eilenberger aber stellt diese Gedankengebilde in so klarer Sprache dar, dass ich die Ausführungen beim Lesen nachvollziehen kann. Das sei hier in Kürze zusammengefasst:
Auf das Unverständnis seiner Schwester für seine Entscheidung, seinen philosophisch geschulten Geist Dorfschulkindern zur Verfügung zu stellen, antwortet Wittgenstein: „Du erinnerst mich an einen Menschen, der aus dem geschlossenen Fenster schaut und sich die sonderbaren Bewegungen eines Passanten nicht erklären kann; er weiß nicht, welcher Sturm draußen wütet und dass dieser Mensch sich vielleicht nur mit Mühe auf den Beinen hält.“
Nach Eilenberger vermittelt dieses Sprachbild Wittgensteins grundsätzlichen Zweifel an der Möglichkeit von Erkenntnis, da wir „im Innenraum der eigenen Erfahrungssubjektivität“ gefangene Wesen seien. Die Antwort an seine Schwester vermittle mit dem Sprachbild die Möglichkeit, ein „Fenster“ zum anderen zu öffnen und so einen Weg in die „Freiheit des Verstanden-Werdens“ zu finden. Für Wittgenstein öffne die Tätigkeit des Philosophierens das „Fenster in die Freiheit eines tätigen, unmittelbar sinndurchdrungenen Daseins mit anderen“. Das Medium des Philosophierens sei die Sprache, die jedoch gleichzeitig den Weg auch „zu verbauen, zu trüben, verzerren, geradezu zu blockieren“ drohe. Wittgenstein benötigt zur Klärung seines Denkens die gänzlich unterschiedlichen Formen der Sprachverwendung, zum einen die der mathematisch-technischen Präzision, die ihm aus seinem abgeschlossenen Ingenieurstudium vertraut ist, und zum anderen die poetische Sprache der Metaphern, Symbole und Sprachbilder. Eilenberger verweist auf die Wiener Kultur der Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die bemüht ist, die Welt der technischen Präzision und die der poetischen Versinnbildlichung als zwei sich gegenseitig bedingende Wege des Strebens nach Klarheit zu verstehen.
Wittgensteins Reflexion über die Möglichkeiten, mit der Sprache sinnvolle Sätze über die Welt als Ganzes zu konstruieren, will und kann ich hier nicht weiter verfolgen. Das liest man dann besser bei Eilenberger oder bei Wittgenstein selber nach (Letzteres habe ich nur im Ansatz versucht).
Anders als Heidegger fragt Wittgenstein nicht nach dem Sinn unserer Existenz. Dafür macht er erstaunlicherweise den Sprung in die Metaphysik, das heißt in den Glauben, der bekanntermaßen jenseits aller Vernunft liegt.
Eilenberger stellt auch bei Wittgenstein stets den Zusammenhang mit dessen Lebenssituation dar. Obwohl Wittgenstein gar nicht auf eine akademische Karriere ausgerichtet ist, reißt sich die akademische Welt geradezu um ihn. Fast absurd ist die Geschichte seiner Promotion, die man ihm mit dem Tractatus und einem Kolloquium, das wohl etwa 5 Minuten gedauert hat, bescheinigt, so dass er schließlich als Professor in Cambridge lehren kann. Herrlich auch die Episode, als er in kurzer Lederhose und dicken Wanderstiefeln zu einem Philosophie-Kongress in Nottingham eintrifft. Ein „Kollege“ weist ihn darauf hin, dass hier ein Philosophie-Kongress stattfinde, worauf Wittgenstein nur antwortet: „Das fürchte ich auch“.
Und nun Benjamin, der wieder ganz andere Wege geht. Auch er stammt aus einem begüterten Elternhaus, das ihm eine hervorragende Ausbildung ermöglicht.
Es wird ihm jedoch nie gelingen, wirtschaftlich wirklich unabhängig zu werden und ein solide gesicherte Existenz aufzubauen. Im Gegenteil, immer wieder muss er den Vater um Unterstützung anbetteln, zeitweise muss er als erwachsener Mann ins Elternhaus zurückkehren. Alle Versuche, mit seinen Schriften, eine akademische Laufbahn einzuschlagen scheitern, auch weil er in seinen Schriften, insbesondere in seiner als Dissertation eingereichten Schrift „Ursprung des deutschen Trauerspiels“, eben jene akademische Welt verhöhnt, um deren Gunst er sich mit dieser Schrift bewirbt.
Auch ihn treibt die Sehnsucht nach Befreiung um, sowohl von der bürgerlichen Existenz als auch von traditionellen Denkschemata. Eilenberger verfolgt seinen Weg zunächst anhand der kleineren Schriften wie „Berliner Kindheit“ und „Einbahnstraße“. Benjamin ist hier der genaue Beobachter der Lebenswelt der Moderne, die er in ihrer Ambivalenz von gutbürgerlicher Beschaulichkeit einerseits und Bedrohlichkeit andererseits analysiert. Es lohnt sich, neben Eilenberger diese Bändchen auf dem Schreibtisch zu haben.
Benjamin hat zwei große Fragen. Die eine ist die nach der Möglichkeit von Freiheit, und zwar sowohl in den zwischenmenschlichen Beziehungen als auch im Denken, und die andere ist die Frage nach der ursprünglichen Sprache, die am Urgrund aller unserer Sprachvarianten stehen müsse und die es zu entdecken gelte, um die Wahrheit finden zu können. Diese Suche nach der ursprünglichen Sprache thematisiert er in dem Aufsatz „Die Aufgabe des Übersetzers“, den er als Vorwort zu seiner Baudelaire-Übersetzung verfasst hat. Der Aufsatz lässt sich gut lesen und schärft das Verständnis für Benjamins Fragestellung, wie sie von Eilenberger dargestellt wird.
Die Möglichkeit der persönlichen Freiheit entwickelt Benjamin in seinem Aufsatz über Goethes Wahlverwandtschaften. Am Beispiel der Umorientierung der Paare in dem Roman arbeitet er den Unterschied zwischen mythologischem und das heißt unfreiem Denken und aufgeklärten Denken heraus. Nur die Befreiung vom Mythologischen, d.h. von Kategorien wie Schicksal und Vorherbestimmung und deren Vorzeichen, mache eine wahre Entscheidung möglich. Damit gehe der Unterschied zwischen „Wahl“ und „Entscheidung“ einher. Die Wahl eines Partners sei das Ergebnis von Abwägungen und eben auch mythischen Beweggründen, damit abhängig von Kategorien, die außerhalb der menschlichen Beziehung liegen. Eine Entscheidung hingegen werde unbedingt gefällt, ohne Rücksicht auf äußere Bedingungen. Nur eine solche Entscheidung mache wirklich frei. Indirekt rechtfertigt Benjamin mit dieser These auch seinen eigenen Umgang mit Liebesbeziehungen, bei denen er meint, keine Rücksicht auf seine ehelichen Verpflichtungen nehmen zu müssen. Erstaunlicherweise macht Benjamin, ähnlich wie Wittgenstein, in der Suche nach dem Lebenssinn den Sprung in den Glauben. Gerade die unbedingte Entscheidung sein eine von der göttlichen Instanz getragene Handlung.
Den kritischen Rezensenten der zeitgenössischen Literatur lernt man u.a. in Benjamins Aufsatz über Proust kennen, in der er einen für die damalige Zeit neuen Blick auf das Werk Prousts wirft.
Eilenberger macht die persönliche Tragik des Menschen Benjamin sichtbar, die verhindert, dass sein literarisches und philosophisches Schaffen zu Lebzeiten auch in akademischen Kreisen anerkannt wird. Eine akademische Karriere bleibt ihm verwehrt. Auch politisch kann er sich nicht recht entscheiden. Er ist der kommunistischen Partei zugeneigt, tritt aber nicht ein. Dann plant er, Hebräisch zu lernen und nach Palästina auszuwandern. Auch dazu kann er sich schließlich nicht entscheiden. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten bleibt ihm nur die Flucht nach Paris und schließlich Richtung Spanien, das er nicht erreichen wird.
Alles das stellt Eilenberger so plastisch und klar dar, dass es ein Vergnügen ist, sich auch auf die höchst komplizierten philosophischen Ansätze der vier Protagonisten einzulassen.
Ich kann nur jeder philosophischen Laiin und natürlich auch den Laien empfehlen, sich an dieses Buch heranzumachen. Es erweitert den Horizont.
Mir bleibt noch nach Benjamins Wahlverwandten-Aufsatz die nochmalige Lektüre von den „Wahlverwandtschaften“ selbst. So ist Eilenbergers Buch auch eine Anregung für weiterführende Lektüre.
Ich bin jetzt gespannt auf Eilenbergers neues Buch „Geister der Gegenwart“, in dem er sich mit den die Zeit von 1948 bis 1984 prägenden Philosophen Theodor W. Adorno, Paul K. Feyerabend und Michel Foucault sowie mit der Philosophin Susan Sontag beschäftigt. Ich bin sicher, dass dieses Buch nicht zwei Jahre auf meinem Schreibtisch liegen wird.
Wolfram Eilenberger, Zeit der Zauberer, erschienen 2018 im Klett-Cotta Verlag, 431 Seiten, 25 Euro.
Elke Trost
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