Die russische Schriftstellerin Maria Stepanowa erhielt allein im Jahr 2023 drei große Literaturpreise für ihr lyrisches und essayistisches Werk. Mit anderen russischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern hat sie im März 2022 einen Appell unterschrieben, der alle russischsprachigen Menschen auffordert, in Russland die Wahrheit über den Überfall Russlands auf die Ukraine zu sagen. Sie verließ Russland im Jahr 2022. Sie lebt zurzeit in Berlin.
Mit „der absprung“ ist nun bei Suhrkamp ihr neuer kleiner Roman erschienen, der die Machtgier Putins und des russischen Systems anklagt, ohne je Putin und Russland beim Namen zu nennen. Der Titel verweist auf die Abkehr der Hauptfigur aus diesem System, der gleichzeitig als Bruch in der eigenen Biografie erlebt wird. Dieser Bruch zeigt sich im Titel schon optisch, nicht nur in der Kleinschreibung, sondern auch in der Versetzung des Wortteils „sprung“ von dem Präfix „ab“ um eine halbe Zeile nach unten.
Die fünfzigjährige Schriftstellerin M. lebt erst seit einiger Zeit in dem neuen Land in der neuen Stadt. In ihrem Land herrscht das Untier, das das Nachbarland überfallen hat. Als sie noch in dem Land des Untiers lebte, hat sie lange nicht erkannt, dass sie Teil dieses Untiers war, als lebte sie in dessen Bauch. Nun, in dem neuen Land, wird sie ständig als angebliche Expertin über ihr Land ausgefragt, oft mit dem unterschwelligen Vorwurf, dass sie und andere Bewohner doch längst etwas hätten gegen das Untier unternehmen können.
In dem neuen Land ist sie als Schriftstellerin anerkannt, ständig unterwegs auf Lesereisen. So auch jetzt, sie ist im Zug unterwegs zu einer Lesung im benachbarten Ausland. In der nächsten Stadt H. (Hamburg?) muss sie umsteigen, um dann noch mehrere Stunden unterwegs zu sein. Aber alles läuft anders als geplant. Ihr Zug fällt aus, sie fürchtet zu stranden, kann aber dann doch nach Auskunft der Organisation, für die sie unterwegs ist, einen Regionalzug bis zur Stadt F. (Flensburg?) an der Grenze fahren, wo sie dann abgeholt werden soll. Aber auch das klappt nicht, niemand erscheint, sie ist verloren in der fremden Stadt. Der Akku ihres Handys ist inzwischen leer, das Ladekabel hat sie im Zug vergessen. Sie ist nun jenseits jeder Kommunikationsmöglichkeiten und beschließt, in einem Hotel der Stadt abzusteigen.
Es entsteht eine völlig neue Situation, die sie für sich fruchtbar macht. Schon längst ist sie ihrer Lebensform überdrüssig, sie fühlt sich gar nicht mehr als Schriftstellerin, vielmehr eher als Maschine, die Veranstaltern und Publikum dient, ohne dass sie meint, etwas Wichtiges oder Neues zu sagen zu haben.
Ihr öffnet sich die Möglichkeit, ihr ganzes altes Leben abzustreifen, alles liegen zu lassen, das Handy nicht aufladen zu lassen, keine Mails oder Nachrichten mehr zu versenden, sondern im Hier und Jetzt sich völlig neu zu entdecken und neu zu definieren. Es kommt zu verrückten Begegnungen und Möglichkeiten, die ihr neue Freiheit von ihrer bisherigen Existenz zu versprechen scheinen. Sie ist drauf und dran, mit einem Wanderzirkus, der in F. ist, weiterzuziehen, nur mit dem Nötigsten, ganz gleich wohin, nur weg von ihrer bisherigen Identität und ihrem bisherigen Leben.
Das Ganze geht jedoch anders aus, als sie sich erhofft hat. Ob sie wirklich die Chance einer Selbsterneuerung erhält, bleibt am Ende offen.
Maria Stepanova thematisiert die Fremdheit, die nach einem Verlust der Heimat in einer neuen Welt bleibt. Die Sehnsucht, sich wieder zu Hause zu fühlen, wird nirgends gestillt. Zu Hause wäre nur in der Welt, die man verlassen hat. Aber dahin zurückzukehren, würde den Verlust auch der äußeren Freiheit bedeuten.
Maria Stepanova erzählt in der dritten Personen, ganz aus der Perspektive der M., dennoch mit einer analytischen Distanz zu der eigenen Person, so als säße sie ständig als Beobachterin neben sich. M. stellt sich die Frage, ob es überhaupt möglich ist, sich noch einmal völlig neu zu definieren, den alten Menschen in sich ganz abzulegen.
Der kleine Roman ist dicht erzählt, mit Assoziationen, die Kindheitsbilder und Bilder der verlassenen Heimat heraufbeschwören. Das bedeutet für M. – wie wohl für jeden Menschen, der sein Herkunftsland verlässt -, dass die räumliche Veränderung ihr zwar neue Erfahrungsmöglichkeiten bietet, dass sie aber ihr bisheriges Leben immer mitnimmt. Sie kann ihre eigene Geschichte nicht auslöschen, ein Neuanfang bei null ist nicht möglich.
Flucht bedeutet, sich in einem fremden Land immer wieder der Frage nach der Herkunft ausgesetzt zu sehen. So fühlt sich auch M. nicht als Individuum wahrgenommen, vielmehr immer in einer Rolle, sei es die der bekannten Schriftstellerin, sei es die der Fremden, die so vieles über das neue Land nicht weiß, zum Beispiel dass man in Wartezimmern nicht miteinander spricht, sondern schweigt oder höchstens über das Wetter redet. Der schließlich scheiternde Fluchtversuch ist getragen von der Hoffnung, endlich nur als Mensch gesehen zu werden, ohne mit irgendwelchen Zuweisungen leben zu müssen.
Es ist ein melancholisches Buch, dass uns in unserem Wohlstand und unserer noch bestehenden Freiheit darauf verweist, dass unser Land nicht für alle der Sehnsuchtsort ist. Für Menschen, die geflüchtet sind, bleibt die Heimat der Ort, an den sie zurückkehren möchten.
Insgesamt ist das ein eindringliches Buch, das uns als Leserinnen und Leser auffordert, unsere Wahrnehmung von Fluchterfahrungen zu schärfen und zu versuchen, unser Land auch einmal mit der Brille des Neuankömmlings zu sehen.
Das Buch ist in der Übersetzung aus dem Russischen von Olga Radetzkaja im Suhrkamp Verlag erschienen. Es hat 143 Seiten und kostet 23 Euro.
Elke Trost
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