Sebastian Barry: „Jenseits aller Zeit“

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Der irische Autor Sebastian Barry ist im englischsprachigen Raum bekannter als bei uns, obwohl alle seine Romane ins Deutsche übersetzt wurden. Sein neuer Roman „Old God’s Time“ erschien 2023 auf Englisch, 2024 nun auf Deutsch unter dem Titel „Jenseits aller Zeit“. Angekündigt wurde der Roman als Kriminalgeschichte. Eigentlich interessiere ich mich nicht für diese Gattung, aber was ich über diesen Roman las, machte mich neugierig. Und ich wurde belohnt mit einer fesselnden Lektüre, die in die Welt des pensionierten Kriminalkommissars Tom Kettle entführt. Es ist dann doch kein Krimi, sondern ein Roman über die furchtbaren Verbrechen im Zusammenhang mit Kindesmissbrauch in irischen Kinderheimen, die von Nonnen bzw. Mönchen geführt wurden.

Tom Kettle hat sich nach 40 Dienstjahren in ein beschauliches kleines Domizil an der irischen Südostküste zurückgezogen. Seit neun Monaten genießt er die neue Freiheit in seinem Korbstuhl mit Blick aufs Meer. Die kleine Wohnung ist ein Anbau zu einem Schlösschen aus dem 19. Jahrhundert, das der Besitzer in mehrere Wohnparzellen aufgeteilt hat. Tom Kettle hat beschlossen, gar nichts mehr zu tun, nur noch seinen Gedanken nachzuhängen und zu genießen.

Doch die neue Lebensform ist nicht ohne Melancholie, denn Tom fühlt sich überflüssig, er wird nicht mehr gebraucht und sein Leben ist für niemanden mehr wichtig. Er ist Witwer, und irgendetwas ist auch mit seinen erwachsenen Kindern. Was genau, wird erst im Verlaufe der Erzählung klar. So verlegt er sich auf die Beobachtung seiner Umwelt und der Natur. Im assoziativen Nachdenken tauchen Bilder aus der Vergangenheit auf, die sich mit Tagträumen vermischen, so dass die Grenzen zwischen Realität und Traum häufig verwischen. Tom schrickt bisweilen auf, weil er sich selbst nicht ganz traut, nicht ganz sicher ist, was das Alter mit ihm macht.

Anfangs sieht es so aus, dass er nur noch etwas Zeit braucht, bis er neue Perspektiven entwickeln kann. Dann aber bricht die Außenwelt in seine Abgeschiedenheit ein. Seine ehemaligen Kollegen suchen ihn auf, um ihn um Mithilfe in einem alten Fall zu bitten, der wieder aktuell geworden ist. Es geht um einen alten Priester, der jetzt des Kindesmissbrauchs überführt werden soll, aber auch um den ungeklärten Todesfall eines anderen Priesters. Tom Kettle war früher zusammen mit einem inzwischen verstorbenen Kollegen mit beiden Fällen befasst.

Tom sieht sich in seiner Ruhe aufgescheucht und beginnt, sein ganzes Leben Revue passieren zu lassen. In einem andauernden inneren Monolog erinnert er sich an die Wechselfälle seines Lebens, an ganz großes Glück wie auch an ganz großes Leid. Peu a peu  enthüllt sich für uns als Leserinnen und Leser sein Lebensweg. Als Sohn einer Prostituierten wird er als kleines Kind in ein Heim eingewiesen, dem er als 16-jähriger entkommen kann. Er wird britischer Soldat und kämpft im Unabhängigkeitskrieg im damaligen britischen Protektorat Malaya. Zurück in Dublin, bahnt ihm sein Ruf als exzellenter Schütze schließlich den Weg zu einer Polizeikarriere. Er heiratet June, die ohne jegliches Wissen um ihre Herkunft ebenfalls als Heimkind aufgewachsen ist. Ihr wird er sein ganzes Leben lang in großer Liebe verbunden sein.

Mit dem Einbruch der alten Fälle in sein Leben drängen sich Bilder aus seiner Kindheit und der seiner Frau auf, die er bisher verdrängt hat und die er auch jetzt nur zögerlich zulässt. So erfahren wir als Leserinnen in Erinnerungsfetzen von seinen eigenen traumatisierenden Kindheitserlebnissen und denen seiner noch schwerer betroffenen Frau June. Sie ist von einem Priester über mehrere Jahre sexuell missbraucht worden, er hat brutale Gewalt sowie Missbrauch von anderen Kindern erlebt. Täter sind immer wieder katholische Priester.

Im Laufe der neuerlichen Ermittlungen zu dem ungeklärten Todesfall kommt heraus, dass Tom nicht nur als ehemaliger Ermittler, sondern auch als Betroffener mit dem Fall in Verbindung gebracht werden kann.

Was tatsächlich geschehen ist, bleibt bis zum Schluss unklar. Tom hat für sich eine Version, der er aber selbst nicht traut und die wir als Leserinnen entsprechend nur als eine Möglichkeit annehmen können.

Mehr soll hier zum Inhalt nicht verraten werden, denn spannend ist dieser Roman sehr wohl, wenn es sich auch nicht um einen klassischen Krimi handelt.

Mich hat in der letzten Zeit selten ein Roman so gefesselt wie „Jenseits aller Zeit“. Das wird wesentlich durch die konsequente Einhaltung von Toms Perspektive bewirkt. Der assoziative Erzählduktus nimmt uns mit in sein Innenleben, das Szenen aus einem langen Leben in seine Korbstuhlexistenz heraufholt. Die Täuschungsmanöver der Erinnerung sind ein Leitmotiv. Verklärende Erinnerung scheint zu helfen, Unerträgliches im Nachhinein erträglich zu machen. Doch dieser Schein trügt. Tom kommt erst innerlich zur Ruhe, als er sich den tatsächlichen Ereignissen stellen kann, ohne dass er das den realen Kommissaren mitteilen muss.

Wie sich diese innere Ruhe und das Ankommen bei sich selbst am Ende darstellen, wird die Leserinnen überraschen. Das soll hier aber ebenfalls nicht verraten werden.

Sebastian Barry legt mit diesem Roman eine schonungslose Anklage gegen heuchlerische und auch verbrecherische Priester vor, die lange Zeit von den herrschenden kirchlichen Instanzen gedeckt wurden. Das Leid der betroffenen Kinder und Jugendlichen spielte in diesem hermetischen kirchlichen System offenbar keine Rolle.

„Jenseits aller Zeit“ ist ein unbedingt empfehlenswertes Buch, das ich kaum aus der Hand legen konnte.

Das Buch ist in der Übersetzung aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser im Steidl Verlag erschienen. Es hat 304 Seiten und kostet 28 Euro.

Elke Trost

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