Peter Sloterdijk: „Der Kontinent ohne Eigenschaften“

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Das vorliegende Buch entstand als Niederschrift einer Reihe von Vorträgen des Autors am Pariser „Collège de France“ unter dem Leitmotto „L´invention de l´Europe par les langues et les cultures“ im ersten Quartal 2024. Daher erklären sich auch die Kapitelüberschriften „Eröffnungsrede“ und „Lektion“. Des Weiteren bedient sich der Autor für sein Thema der Metaphorik eines Buches, indem für Kernaussagen an entsprechenden Stellen „Lesezeichen“ einfügt, die natürlich im übertragenen Sinne zu verstehen sind.

Sloterdijk unterteilt seine Gedanken über unseren Kontinent, der eigentlich keiner ist und einer Selbstermächtigung entspringt, in zwei „Eröffnungsreden“ und sieben „Lektionen“, wobei man annehmen kann, dass er für die Zahl der Lektionen bewusst einen mythischen Hintergrund gewählt hat, da dieser Kontinent schließlich das Weltgeschehen in erheblichem Maße beeinflusst hat. Laut Wikipedia gilt diese Zahl „in zahlreichen Kulturen ….. als Symbol für Vollkommenheit und Erleuchtung“.

In seinen beiden „Eröffnungsreden“ versucht er zuerst eine Definition des „Durchschnittseuropäers“, den er im Grunde genommen als nicht-existent erkennt. Er zeichne sich vor allem durch eine Desidentifikation, ja, aufgrund der weltweiten Anklagen – vor allem in intellektuellen Kreisen – geradezu als Selbstverneiner und -verachter aus. Im Gleichschritt sieht Sloterdijk damit eine Dekadenz-Vorstellung Europas um sich greifen, die mal aus der ethischen Mischung („Rasse“), mal aus einer historischen Erschöpfung abgleitet wird. Zum Schluss bescheinigt der Autor den Europäern angesichts der heutigen Lebensumstände eine gewisse Undankbarkeit gegenüber der eigenen Geschichte

Anschließend definiert Sloterdijk Europa als „Re-Enactment“ des Römischen Reiches, wobei erst die Kirche als politischer Lückenfüller und dann die entstehenden Nationalstaaten frei nach dem Sinn des Begriffs „Imperium“ das hierarchische Befehlswesen als Grundlage ihrer Existenz heranzogen. Die „Latinität“ war über Jahrhunderte das leitende Prinzip, die Kirche fungierte als „Rom-Ersatz“, und der angebliche Untergang Roms entpuppte sich laut Sloterdijk als Übergang.

Im Mittelpunkt der „Lektion 1“ stehen Sprache und Lernen. Sloterdijk sieht Europa als „lerngeschichtliche Singularität“, in der das Lernen und damit die bald gegründeten Schulen aller Arten die Grundlage für die spätere Entwicklung bildeten. Dabei entwickelt er eine Prozess-Theorie der Lerngeschichte, in der Rückkopplungseffekte eine zentrale Rolle spielen. Nicht reine Nachahmung galt als Prinzip des Lernens, sondern innovative Ideen, die wiederum neue Verfahren und Konzepte für die Beschleunigung der Wissensgewinnung und -verbreitung in Gang setzten.

Die zweite Lektion handelt von der Reflexion des Individuums über sich und die Welt. Die Autobiographie bildet hier seit Augustinus´ „Confessiones“ eine stabile Ausgangsbasis und gestaltete sich schnell zu einer generellen Art der Auseinandersetzung mit der Welt. In neuerer Zeit führt Sloterdijk hier vor allem den Denker Rosenstock-Huessy an, der sich aufgrund der selbst erlebten Katharsis des Ersten Weltkriegs das Recht und die Pflicht herausnahm, eine normative Autobiographie Europas zu schreiben und die Pflicht zu einer als Medium eines höheren (Welt-)Geistes zu verstehenden Revolution auszurufen. Von da kommt Sloterdijk zum (Un-)Wesen der Revolution und lässt die europäischen Revolutionen mit ihren eigenen katastrophal-kathartischen Folgen Revue passieren. Das Kapitel schließt mit Gedanken zur europäischen Mehrsprachigkeit, die letztlich durch das Medium der Bibel als Basis der Kommunikation zu einer gewissen Einheitlichkeit fand.

Die dritte Lektion befasst sich mit den Untergangspropheten der jüngeren Vergangenheit wie Oswald Spengler oder auch – auf seine eigene Art – Friedrich Nietzsche. Sloterdijk sieht den Grund dieser Untergangsstimmung in der – bis dahin – singulären Katastrophe des Ersten Weltkriegs und der danach aufkommenden allgemeinen Verliererstimmung. Den deterministische Charakter dieses Untergangsnarrativs sieht er jedoch nicht als Beschreibung einer nackten Tatsache, sondern als Reaktion eines enttäuschten Zukunftsglaubens. Dass sich dieser Untergang im Sinne einer „self fulfilling prophecy“ dann im Zweiten Weltkrieg bewahrheitete, war in gewisser Weise Folge dieser Stimmung und gleichzeitig Verstärker derselben. Untergangs- und Dekadenzerzählungen sind für Sloterdijk ein Charakteristikum auslaufender Epochen und passen besonders in ein Europa mit gravierenden kulturellen Umbrüchen – Industrialisierung! – sowie den oben erwähnten autobiographischen Traditionen.

In der nächsten Lektion nimmt Sloterdijk wieder den Faden der Autobiographien auf und leitet sie aus den Geständnissen der frühen Religionsstifter her. Doch Sloterdijk dreht diese These am Beispiel Spenglers ins Gegenteil um, wonach jede Selbstbiographie im Prinzip eine Beichte ist. Wer sich zum Zustand der Welt äußert, reiht sich – unbewusst? – in den Kreis der Schuldigen ein und fordert zu Umkehr und Buße auf. Ein sehr gutes Beispiel aus heutigen Tagen ist der Klimawandel, der das beichtende Ich sogar zu einem Wir erweitert. Sloterdijk geht in diesem Kapitel auf alle Fälle der großen Beichten der fast zweitausendjährigen Geschichte Europas unter dem Motto „dire vrai sur soi-même“ ein, angefangen bei den Confessiones des Augustinus. Dabei muss mit nachlassender Absolutionsmacht der Kirche die Öffentlichkeit für die Lossprechung sorgen, weshalb diese Geständnisse zunehmend als Literatur oder Philosophie daherkommen. Dabei sprechen die beichtenden Autoren auch bald für die Gesellschaft mit, siehe Pascal oder Rousseau.

In Lektion 5 diskutiert Sloterdijk das Phänomen der räumlichen Expansion, was so nur von Europa bekannt ist. Dabei identifiziert er wieder die christliche Religion als Urheber mit der Forderung „Gehet hinaus und predigt mein Wort“. Schon die ersten Seefahrer der Portugiesen und Spanier hatten Priester an Bord, denen die Missionierung oblag. Dabei führt Sloterdijk den heutigen Begriff der „mission“, gelte sie dem Mond oder der Demokratisierung Afghanistans, auf die christliche Missionierung zurück. Daraus ergab sich dann im Laufe der Jahrhunderte das vermeintliche Recht, fremde Länder zu „entdecken“, sie zu vereinnahmen und ein nicht missionierbares Volk (durch Ausbeutung) zu bestrafen. In der detaillierten Beschreibung der Expansion – von den Kreuzzügen bis zu Globalisierung des 21. Jahrhunderts – zeichnet Sloterdijk den exklusiv europäischen Drang zur Ausweitung des eigenen Geltungs- und Tätigkeitsbereichs nach.

Lektion 6 behandelt die mit der Expansion eng verbundene Bevölkerungsentwicklung. Wiederum waren es die Europäer, die die Kugelgestalt der Erde, damit ihre „Endlichkeit“ und vor allem die Umschiffbarkeit praktisch bewiesen. Die im wahrsten Sinne des Wortes „Erfahrung“ der Welt schuf laut Sloterdijk ein völlig neues Weltverständnis, das die Forderung der Bibel, sich die Welt untertan zu machen, eben wegen dieser Endlichkeit möglich machte. Das änderte das Selbstverständnis des bäuerlichen Menschen und weckte die Lust oder Gier, die weite Welt kennenzulernen und für sich zu nutzen. Sowohl weltliche Fürsten als auch Kleriker brauchten dazu Menschen für die militärischen Abenteuer sowie die christliche Besiedlung und Beherrschung der „neuen“ Welt. Man löschte also die in der Bevölkerung durchaus vorhandenen Mittel der Geburtenkontrolle, wobei die Hexenjagd eine wesentliche Rolle spielte, denn diese Kenntnisse waren gerade bei den „weisen Frauen“ vorhanden. Die wachsende Bevölkerung stellte dann nicht nur genug Menschen für militärische, ökonomische und weltanschauliche Expansion zur Verfügung, sondern sie kurbelte auch – nicht zuletzt durch Ausbeutung der eroberten Kolonien – die heimische, sprich europäische Wirtschaft an und ermöglichte weitergehende Expansionen. Das Wirtschaftswachstum überdeckte dann im Zuge der technischen Entwicklung die ursprünglichen Beweggründe und mutierte selbst zur Begründung der Ausdehnung, die erst mit der Dekolonisierung im 20. Jahrhundert endete. So wurde im Laufe der Zeit aus dem Medium der in die Welt versandten Botschaften – Missionierung und europäische Denkweise – die Botschaft selbst: europäische Schiffe und Menschen, damals in den Ankunftsländern bewundert, heute gehasst. Sloterdijk zeigt in seinen Ausführungen die Verästelungen dieser von Europa ausgehenden Entwicklung sowie ihre – frühen wie späten – Folgen in farbigem Detailreichtum und stringenter Logik.

Im letzten Kapitel beleuchtet Sloterdijk dann die Reaktion des „Rests der Welt“ auf die europäische Expansion. Im Zeitalter der Dekolonisierung bilden jahrhundertelange Ausbeutung und Unterdrückung ein explosives emotionales Gemisch, das sich bei kleinsten Anlässen sofort entzündet. Minderwertigkeitskomplexe in den ehemaligen Kolonien ob der eigenen Geschichte und Situation entladen sich dann in „gerechten“ Protesten und Verurteilungen. In diesem Zusammenhang diskutiert Sloterdijk dann auch noch einmal das Phänomen, dass sich alle Revolutionen am Ende stets gegen die eigene Gemeinschaft richten. Schon die französische Revolution forderte mehr Opfer aus den Kreisen der Revolutionäre als aus dem Adel, die bolschewistische steigerte diesen Wahn der innerparteilichen Auslöschung in globale Ausmaße, und Mao gewann schließlich den Hauptpreis für die Selbstauslöschung. Offen Verachtung und Hass der dekolonisierten Länder enthalten daher laut Sloterdijk auch immer einen Teil von Selbsthass, der aus der gefühlten Minderwertigkeit des unterdrückten Opfers entsteht. Diese Verachtung der Opfer gegenüber den europäischen Tätern schlägt erstaunlicherweise gerade bei letzteren sofort an und äußert sich dort als Selbsthass, vor allem in intellektuellen Kreisen, in denen es offensichtlich als ausgemacht gilt, nicht zu diesem Täterkreis gehören zu wollen, auch wenn man dort lebt. Inwieweit die Haltung des „gauche caviar“ dabei eine Rolle spielt, lässt Sloterdijk offen, doch konstatiert er trocken, dass vor allem die europäische Linke Europa mit geradezu selbstvernichtender Lust Europa verdammt. Praktische Wiedergutmachung auf der Basis positiver Zukunftsausblicke ist deren Sache nicht, sondern eher Untergangsstimmung wie zu Zeiten eines Oswald Spenglers

Diese Rezension kann die vielfältigen Themen des vorliegenden Buches nur anreißen und in keiner Weise auf die Tiefe und gedankliche Schärfe von Sloterdijks Ausführungen eingehen. Zu jedem der angesprochenen Themen und weiteren mehr entwickelt er scharfsinnige und stringente Gedankengänge, die stets auf Evidenz und nie auf Ideologie beruhen, soweit man Evidenzforderung nicht als Ideologie betrachtet. Es ist geradezu eine intellektuelle Freude, dieses sowohl in seiner Aussage als auch sprachlich brillante Buch zu lesen und dabei erstaunliche Erkenntnisgewinne zu verbuchen. Es sei jedem Europäer zu Selbstvergewisserung seiner Herkunft wie seiner aktuellen Situation dringend empfohlen – natürlich auch Nicht-Europäern.

Das Buch ist im Suhrkamp-Verlag erschienen, umfasst 296 Seiten und kostet 28 Euro.

Frank Raudszus

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