Stella Benson: „Zauberhafte Aussichten“

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„Dies ist kein echtes Buch. Es handelt weder von echten Menschen, noch sollte es von echten Menschen gelesen werden. Jedoch sind bereits so viele echte Bücher in der Welt, … dass ein kleines abwegiges Buch wie dieses, das für eine magisch veranlagte Minderheit geschrieben wurde, wohl kaum … als allzu forscher Eindringling betrachtet werden kann.“

Mit dieser Vorbemerkung beginnt die britische Autorin Stella Benson ihren 1919 erschienenen verrückten kleinen Roman „Zauberhafte Aussichten“ (Originaltitel: „Living Alone“).

Stella Benson (1892 – 1933) war in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine in Großbritannien sehr bekannte und viel gelesene Autorin, geschätzt von der Kritik und von Kolleginnen wie Virginia Woolf und Katherine Mansfield. Sie engagierte sich aktiv in der Frauenbewegung und in der Wohltätigkeitsarbeit. Auch als Ehefrau bestand sie darauf, ihre Entwicklung als Schriftstellerin an erste Stelle zu setzen. Die Rolle der dienenden Hausfrau lehnte sie vehement ab. Trotz ihrer zeitgenössischen Popularität geriet sie zunehmend in Vergessenheit. Umso größer ist das Verdienst des Rowohlt Verlages, ihren Roman nun erstmals in der deutschen Übersetzung vorzulegen. Denn es wird uns ein skurriler Roman beschert, der alles auf den Kopf stellt, was rational und vernünftig geordnet zu sein scheint.

Wir befinden uns in London während des ersten Weltkriegs. Die ständige Bedrohung durch Angriffe mischt die Menschen auf, die sich klassenübergreifend in Kellerräumen wiederfinden. Die junge Hexe Angela erscheint unangemeldet auf der  Sitzung eines vornehmen Wohltätigkeitskomitees in London. Die Damen und Herren der besseren Gesellschaft entscheiden hier nach angeblich wissenschaftlichen Kriterien, wer unterstützungswürdig ist und wer nicht. Die junge Hexe passt in keines dieser Muster und ist ohne definitiven Namen und Wohnort  nicht einzuordnen, zumal sie den moralischen Grundsätzen der Damen nicht entspricht. Die Hexe schert sich nicht um die Einwände, vielmehr entlarvt sie die Scheinheiligkeit der scheinbar Mildtätigen. Da das wiederum die Damen nicht auf sich sitzen lassen wollen, machen sie ihr eine nach der anderen in ihrem „Haus Alleinleben“ ihre Aufwartung, geraten dabei in den Strudel magischer Ereignisse, die sie völlig durcheinander bringen.

In einem Spiel aus Ernst und Spaß nimmt Stella Benson mit ihrer jungen Hexe die verknöcherten Strukturen der britischen Gesellschaft aufs Korn, wie zum Beispiel  die immer noch dominierenden Klassenunterschiede oder die fragwürdige Autorität der Polizei, die nach einem Wesen fragt, das mit einem unerlaubten Flugobjekt (es war der Hexenbesen!) in den kriegerischen Luftkampf eingegriffen und damit dem Feind geschadet habe. Wir haben als Leserinnen zuvor den Luftkampf der alten (!) deutschen Hexe mit der jungen britischen Hexe erlebt. Auf ihren Besen bekämpfen sie sich, bis die deutsche Hexe (wie könnte es anders sein!) ins Nichts abstürzt. Hinter dem Spaß an der Oberfläche verbirgt sich die Kritik am Wahnsinn des Krieges, der auf beiden Seiten so viele Verluste zur Folge hat.

Gleichzeitig ist diese junge Hexe selber ein Vorbild für die unabhängige Frau, die sich gegen alle widrigen Umstände ihren Weg bahnt und dabei immer ein offenes Herz für die Benachteiligten hat.

In ihrem „Haus Alleinleben“ bietet sie Frauen Zuflucht, die sonst in Armut und Elend abrutschen würden. Peony, eine junge Frau in sehr prekären Lebensumständen,  ist eine von ihnen. Sie lebt in diesem magischen Haus, bis sie sich stabilisiert hat und einen Partner für ihr weiteres Leben gefunden hat.  Peony ist in ihrer Unmittelbarkeit und mit ihrer ehrlichen, auch drastischen „Unterschichtssprache“ das Gegenbild zu den feinen Damen des Wohltätigkeitsvereins, die vor lauter Manieren und ihrer scheinbaren Wohlangepasstheit ihren eigentlichen Auftrag aus den Augen verlieren.

Zumindest gelingt es dem Auftreten der jungen Hexe, auch bei diesen Damen ein Nachdenken anzustoßen, ob auf Dauer, bleibt die Frage. Wohl aber gelingt ihr das bei Sarah Brown, die als graues Mäuschen im Wohltätigkeitskomitee für die niederen Aufgaben zuständig ist. Sie ist die einzige, die ihre Chance wahrnimmt und aus ihrem bisherigen kümmerlichen Leben ausbricht und in „Haus Alleinleben“ einen Neubeginn wagt. Sie wird tatsächlich den Absprung schaffen.

Die junge Hexe hat in dem magischen Sohn einer der Wohltätigkeitsdamen einen Mitspieler. Er unterstützt sie mit allen Kräften, ihm gehört die Feeninsel und auch das „Haus Alleinleben“. Gemeinsam stören sie die Ordnung, wo sie nur können, und stiften damit zum Umdenken an.

Der Roman liest sich witzig und bisweilen etwas verrückt. Bei den zeitgenössischen Leserinnen und Leser kam das gut an, zumal die Briten immer noch eine Affinität zu magischem Denken haben (tatsächlich glauben auch heute noch viele ganz vernünftige Briten  an den „Poltergeist“).

Vielleicht tut auch uns zum Ernst neigenden deutschen Leserinnen und Lesern so ein Schuss Magie ganz gut. Verrückt zu denken, d.h. die Welt einmal mit ganz anderen Augen zu sehen, ohne Kriege, ohne Machtmissbrauch, ohne Klassenunterschiede und Diskriminierung, sich vorzustellen, wie jemand von außen auf unser Tun und Lassen blicken würde, könnte vielleicht einiges an Veränderung bewirken.

Die Übersetzerin Marie Isabel Matthews-Schlinzig weist in ihrem Nachwort auf die besonderen Herausforderungen bei der Übertragung ins Deutsche hin. So galt es zum Beispiel, die nicht regelkonforme Dialektsprache der Peony in eine entsprechende Form zu bringen. Matthews-Schlinzig hat sich dazu einen Kunstdialekt erdacht, der in Aussprache und Grammatik gegen die Standardsprache verstößt, aber den authentischen Ausdruck von Gefühlen wiedergibt, wie es auch im Original der Fall ist. Zum andern galt es den affektierten Akzent der britischen Gesellschaftsdamen anzudeuten (z. B. wird bei ihr aus „schrecklich“ „schröcklich“). Außerdem hat sie sich die Mühe gemacht, die Sprache vorsichtig zu modernisieren. Dazu gehörte auch, heute als diskriminierend empfundene Wörter sensibel zu übertragen. Das gelingt der Übersetzerin sehr gut.

Wer also Lust hat, sich auf diesen kleinen verrückten Roman einzulassen, wird nicht enttäuscht werden. Denn das Lesevergnügen ist groß.

Der Roman ist in der Übersetzung von Marie Isabel Matthews-Schlinzig im rororo Taschenbuch-Verlag erschienen. Das Buch hat 224 Seiten und kostet 15 Euro.

Elke Trost

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