Die Tragik des Genies

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Nach zwölf Jahren findet Christoph Willibald Glucks Oper „Orpheus und Eurydike“ wieder auf die Bühne des Staatstheaters Darmstadt zurück, jetzt in der Fassung von Hector Berlioz auf Französisch und in der Inszenierung von Sören Schuhmacher. Während die Inszenierung von 2012 eine historische Aufführungspraxis in den Vordergrund rückte, steht bei Schuhmacher die Künstlerpersönlichkeit des Orpheus im Mittelpunkt. Während der Mythos zwar den betörenden Gesang des Titelhelden betont, aber ansonsten eine von der Götterwelt abhängige Liebesgeschichte erzählt, schält Schuhmachers Inszenierung die Einsamkeit und – ja! – Bindungsunfähigkeit des genialen Künstlers heraus. Dieser ist nur seiner Kunst verpflichtet und darf nicht, Zustimmung oder gar Liebe heischend, zurückschauen auf sein Publikum. Wenn er es tut, verwirkt er seine Gabe und verliert dabei sowohl sein Ziel als auch sein Publikum.

Ensemble

So in etwa könnte man, etwas vergröbert dargestellt, den Ansatz der neuen Inszenierung im Staatstheater Darmstadt beschreiben. Dafür hat Schuhmacher Personaltableau und Bühne bewusst reduziert. Ein großes Tor im erhöhten Bühnenhintergrund deutet den Übergang in die Unterwelt an, jedoch ohne plakative oder gar ikonische Bildelemente. Die Rampe zu diesem Tor dient eher der einfachen Überwindung der Stufen denn als Metapher. Ein umgekehrt liegendes Boot steht ganz vordergründig für die Überfahrt über den Fluss in die Unterwelt und hintergründig für das „Im-gemeinsamen-Boot-sitzen“ des mythischen Paares.

Vor dieser bewusst sparsam gehaltenen Kulisse spielt sich das Drama um die scheiternde Rückführung Eurydikes aus der Unterwelt ab. Der stimmlich durchweg präsente Chor singt aus dem „Off“ – im Graben? – und muss auf jegliche darstellerische Präsenz verzichten.

So konzentriert sich die gesamte Handlung auf Orpheus (Lena Sutor-Wernich), Eurydike (Jana Baumeister) und den sporadisch auftretenden Amo(u)r (Marie Smolka). Dazu hat Regisseur Schuhmacher noch in einer weiteren Rolle den Tänzer Marcos Abranches als „Mort/Psychée“ integriert. Abranches hat sich trotz schwerwiegender körperlicher Einschränkungen als Tänzer einen Namen gemacht und spielt hier den stimmlosen Part eines dunklen „alter ego“ von Orpheus. Alles, was den einsamen Künstler bedrängt oder gar existenziell ängstigt, verdichtet sich in dieser Figur, die Orpheus´ innere Nöte pantomimisch zum Ausdruck bringt.

Marcos Abranches und Marie Smolka

Der farbenfrohe, enge Hosenanzug, in dem Orpheus alias Lena Sutor-Wernich auftritt, verweist auf die exaltierten Kostüme heutiger Pop-Größen, ohne diesen Aspekt jedoch auszuwalzen. Dagegen trägt Eurydike ein langes, fast wallend zu nennendes Kleid, das eher auf das klassische Frauenbild verweist. Damit setzt Schuhmacher optisch die Eckpfeiler der Paar-Deutung: einsames Musikgenie und liebende Frau. Damit liegt er zwar nicht weit vom Mythos und von Glucks Deutung entfernt, aber fügt dem Ganzen noch ein Stück moderne Psychologie hinzu. Dabei lässt er offen, ob dieses Künstlerbild das eitle Selbstbild eines vermeintlichen Künstlergenies und damit Gegenstand einer – moralistischen – Kritik ist oder ob der hochbegabte Künstler – hier Musiker – zwangsläufig von seiner menschlichen Umgebung entkoppelt ist und gar nicht über die Möglichkeit eines achtsamen Zurückblickens (auf die Zurückgebliebenen) verfügt. Diese Ambivalenz darf man dem Regisseur hoch anrechnen, da das Moralisieren bekanntlich ein angenehmes und erhebendes Gefühl der Überlegenheit verleiht.

Durch die Konzentration auf wenige Rollen und den Verzicht auf die Bühnenpräsenz des Chores steht das Individuum Orpheus über die gesamte Dauer der Aufführung im Mittelpunkt, nur streckenweise begleitet von Eurydike und Amour. Die gesamte Aufmerksamkeit gilt der Gefühlswelt dieses musikalsichen Genies, das selbst die Götter der Unterwelt betört. Doch Orpheus ist sich seiner Gabe gar nicht bewusst, sondern beklagt nur aus tiefstem Herzen den Verlust seiner Eurydike und bemerkt nicht, dass gerade diese Klage dank ihrer ästhetischen Wirkung die Dinge grundlegend ändert. Betrachtet man darüber hinaus Eurydike nicht profan als seine Geliebte sondern als metaphorische Muse, werden die Dinge noch klarer: wer die Muse verliert, darf sie nicht hilflos anstarren, will er nicht seine gesamte Kreativität einbüßen. Und Eurydikes vermeintlich beziehungstaktisches Geplänkel um Orpheus` Blicklosigkeit stellt dann den ewigen Konflikt des Künstlers mit seiner inneren Muse dar.

Jana Baumeister und Lena Sutor-Wernich

Es ist anzunehmen, dass Schuhmacher auch diesen metaphorischen Aspekt im Auge gehabt hat, sich aber davor gehütet hat, ihn plakativ zum Ausdruck zu bringen. Vieles ergibt sich aus einer entsprechenden Inszenierung von selbst, ohne dass man es dem Publikum noch einmal explizit erklären muss. Gute Regisseure kennen diese Erkenntnis-Dynamik und lassen deshalb bestimmte Aspekte einfach auf der Bühne reifen, so wie hier.

Am Schluss sorgt Schuhmacher dann noch für eine Pointe. Während im Mythos Eurydike in die Unterwelt zurücksinkt und der verzweifelte Orpheus von den Mänaden zerrissen wird, lässt Gluck Amor als „deus ex machina“ auftreten und das Liebespaar trotz des Regelbruchs zusammenfinden. Schuhmacher jedoch schiebt dem einen Riegel vor und lehnt dieses geradezu kitschige „Happy End“ ab. Ohne das Libretto eigenmächtig zu ändern, verleiht er dem Stück alleine durch die Darstellung der Bühnenfiguren ein völlig anderes Ende, das wir hier nicht verraten wollen. Es passt jedoch wesentlich besser zum Mythos und einer aufgeklärten Gesellschaft, wenn es auch nicht so heimelig schön ist.

Das Orchester unter der Leitung von Nicolas Kierdorf intoniert Glucks Musik durchweg im kammermusikalischen Stil unter Verzicht auf starke Kontraste, damit vor allem Orpheus´ Gesangstexte ausdeutend. Lena Sutor-Wernich brilliert in der Orpheus-Rolle mit verinnerlichter Eindringlichkeit und hoher stimmlicher Variabilität, und Jana Baumeister setzt dagegen die Wut und Enttäuschung einer vermeintlich vernachlässigten Ehefrau. Das Duett kurz vor Orpheus´ fataler „Rückschau“ ist ein Höhepunkt dieser Inszenierung und erntete bei der Premiere spontanen Szenenapplaus.

Nach dem unerwarteten Ende musste sich das Publikum erst einige Sekunden sammeln, um dann aber in langen, begeisterten Beifall auszubrechen. Dieses Stück dürfte das große Haus für einige Zeit füllen.

Frank Raudszus

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