Finn Job: „Damenschach“
Was für ein irres Buch: Vier Intellektuelle treffen sich anlässlich des 50. Geburtstages der Zwillinge Marie-Louise und Marius, alias Marie-Claire, in Marie-Louises Villa in der Nähe von Wien. Nach anfänglichem gegenseitigem Belauern kommt es zu massiven Gewaltausbrüchen, bei denen mit wechselnden Allianzen gekämpft wird. Dass sich vier gebildete Menschen aufs Schärfste provozieren und sich gegenseitig fertig zu machen versuchen, erinnert nur zu deutlich an Edward Albees Stück „Who ist afraid of Virginia Woolf?“ aus dem Jahre 1962.
Der Roman ist angelegt wie ein 5-Akt-Drama: Vorgeschichte – Entwicklung des Konflikts – Höhepunkt – retardierendes Element – Katastrophe oder Auflösung des Konflikts. Wenn wir den Roman von seinem Ende her betrachten, gibt es weder die Katastrophe noch eine Lösung, eher eine Auflösung aller Kommunikation, die Annäherung oder gar Versöhnung gar nicht mehr möglich macht.
Worum geht es konkret?
Marie-Louise ist seit einigen Jahren verwitwet. Nach dem Tod ihres Mannes, eines Architekten, hat sie das von ihm minimalistisch geplante und ausgestattete Haus in ihre eigene „Burg“ umfunktioniert und darin Kitsch und Kunst in Überfülle angehäuft, offenbar als posthume Gegenwehr gegen einen dominanten Ehemann.
Neben vielen jugendlichem Liebhabern hält sie sich mit dem Psychoanalytiker David einen Hausfreund, der ihr die Möglichkeit zu intellektuellem Austausch und Nähe bietet, wenn auch nicht viel mehr. Den Haushalt führt ihr Ivana, eine hochgebildete Frau, die offenbar aus Russland stammt.
Es ist der 50. Geburtstag von Marie-Louise, dem sie nur scheinbar keine besondere Bedeutung zukommen lassen möchte. Dennoch hat sie David gebeten, ihr zur Seite zu stehen, weil sich ihr Zwillingsbruder Marius aus Berlin mit seiner sehr jungen neuen Freundin Olivia angemeldet hat. Das Pikante ist, dass Marius bis vor kurzem ihre Zwillingsschwester war, sie ihm nun zum ersten Mal nach seiner „Transition“ zum Mann begegnen wird.
Aber man ist ja tolerant und gibt sich im Vorfeld ganz entspannt. Auch das nur scheinbar. Mit dem Eintreffen von Marius und Olivia ist das Thema „Geschlechtsumwandlung“ im Raum. Marie-Louise will nicht akzeptieren, dass ihre Schwester nun ihr Bruder ist, gleichzeitig aber will sie auch aufgeklärt und durchaus „woke“ erscheinen. Sie kennt sich aus, sie weiß, dass das Spiel mit den Geschlechterrollen eine lange Tradition hat, gleichzeitig unterstellt sie der Bruder-Schwester mangelnde Ernsthaftigkeit. Daraus entwickelt sich ein Streitgespräch, in dem alle Beteiligten in Hab-Acht-Stellung sind, um den jeweils anderen mangelnde politische Korrektheit nachweisen zu können. Dabei verwickeln sich alle so in Widersprüche, dass immer klarer wird, dass der intellektuelle Anspruch und die Umsetzung der eigenen Haltung in konsequentes Verhalten misslingt. Bei aller scheinbaren Aufgeklärtheit sind alle Protagonisten in herkömmlichen Vorstellungen verhaftet, was sie aber nicht zugeben wollen.
Die vier Streitenden Marie-Louise, Marius, David und Olivia werden beobachtet und auch gelenkt durch Ivana, die hinter ihrer Koch-Insel als Beobachterin, als Kommentatorin und gleichzeitig als Bedienung agiert. Wie der Chor im antiken Drama übernimmt sie die Deutung der Vorgänge, stellt richtig, wo etwas Falsches behauptet wird, und greift ein, wenn sie es für nötig hält. Dann tritt sie hinter ihrer Insel hervor und wird selbst zur Akteurin. Sie hat eine merkwürdige Doppelfunktion, zum einen als selbstbewusste Haushälterin, zum anderen wird sie im Anklang an feudale Verhältnisse als „Zofe“ der „Burgherrin“ bezeichnet. Dass die Zofen meist mehr wissen und klüger sind als ihre Herrinnen, wissen wir spätestens seit Franziska aus „Minna von Barnhelm“.
Ivana kennt ihre Frau Auer, sie weiß, dass sie tablettenabhängig ist und zu viel Alkohol trinkt. Ohne sie kommt ihre Chefin gar nicht zurecht, aber sie verweigert ihre eigentliche Aufgabe, den Haushalt zu führen. So gibt es an diesem Geburtstag nichts zu essen im Haus außer Baguette und später vom Lieferdienst gebrachte Pizza. Aber der Alkohol fließt in Strömen in einem Durcheinander von Champagner, Wein, Gin und Likör. Mit Fortschreiten der Nacht sind alle heillos betrunken.
So entwickelt sich aus dem anfänglichen Zickenkrieg ein Kampf aller gegen alle, der in einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen den Zwillingen seinen Höhepunkt findet. Da treffen die unterschiedlichen Familiennarrative aufeinander, bis schließlich keiner und keine mehr weiß, was die Wahrheit ist, weder die Figuren in dem Roman noch die Leserinnen und Leser. Aber das ist auch so gewollt. Dass unsere Erinnerung eine große Lügnerin ist, ist mittlerweile eine Binsenweisheit.
In diesem ganzen Durcheinander spielen die Frauen ein erotisches Spiel, das sowohl die Männer gegeneinander ausspielt als auch die Frauen untereinander. Intime Annäherungsversuche unter dem Tisch, etwa von Marie-Louise an Olivia, werden über dem Tisch zunächst verborgen, später öffentlich entlarvt.
Die chaotische Nacht durchzieht das Thema „Geschlechtsumwandlung“. Marius, alias Marie-Claire, versucht immer wieder zu betonen, dass er jetzt als Mann das ist, was er immer schon sein wollte. Olivia aber blamiert ihn öffentlich, weil eine vergrößerte Klitoris nun eben noch lange kein Penis ist. Andererseits fühlen sich beide nicht mehr so diskriminiert, seit sie nach außen kein lesbisches Paar mehr sind. Olivia allerdings bekennt sich schließlich doch als Lesbe. Mit dieser Art Mann jedenfalls will sie offenbar keine Hetero-Frau spielen.
Nichts stimmt in diesem Theater. Finn Job führt uns diese Menschen vor, wie sie sich nach außen im Dialog verhalten und wie sie gleichzeitig innerlich zu der Situation auf Distanz gehen, die Lügen durchschauen, dennoch aber das Lügenspiel mitmachen.
Bis auf Ivana sind alle vier gefangen in ihrer Intellektualität einerseits, mit der sie Abgeklärtheit und Durchblick nach außen suggerieren, während wir sie andererseits von innen als sehnsüchtig nach Nähe und Zuwendung erleben, ganz gleich von wem.
Nur darf man das offenbar nicht zugeben. In diesem brutalen Damenschach geht es um Gewinnen oder Verlieren. Wer gewinnt, bleibt offen. Nur Ivana zieht für sich eine wirkliche Konsequenz: So will sie hier offenbar nicht weiter hausen. Damit ist sie die eigentliche Gewinnerin in diesem Damenschach.
Finn Jobs Roman ist eine fulminante Auseinandersetzung mit allem, was wir „Wokeness“ und politische Korrektheit nennen. Er entlarvt dabei, dass diese Haltungen, die für sich Achtsamkeit und Toleranz in Anspruch nehmen, in Wahrheit oft als Waffen gegen Andersdenkende missbraucht werden und damit in ihr Gegenteil umschlagen.
Die Frage ist, wer in dieser Welt überhaupt noch authentisch ist oder ob wir alle nur Spieler sind. Hoffentlich nicht.
„Damenschach“ ist eine drastische und gleichzeitig sehr subtile Kritik an der „woken“ intellektuellen Szene der Gegenwart. Unbedingt lesenswert!
Der Roman ist im Verlag Klaus Wagenbach erschienen. Es hat 176 Seiten und kostet 22 Euro.
Elke Trost
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