Ines Geipel: „Fabelland“

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Der Untertitel dieses Buches lautet „Der Osten, der Westen, der Zorn und das Glück“ und verweist damit – zumindest für deutsche Leser – eindeutig auf die ambivalente Geschichte der wiedererrungenen deutschen Einheit. Gleichzeitig suggeriert der Untertitel einen Sachbuch-Charakter – doch da stocken wir schon, denn dieses Buch ist gleichzeitig weniger und mehr als ein Sachbuch zu diesem Thema, zum Beispiel im Vergleich mit Steffen Maus „ungleich vereint„.

Dieser scheinbare Widerspruch erfordert einige biographischen Angaben zur Autorin. Ines Geipel studierte in der DDR Germanistik, erhielt jedoch Ende der achtziger Jahre wegen einer eher harmlosen Aktion mit einem Friedensplakat Promotionsverbot und Einstellungssperre an allen einschlägigen Institutionen. Ihr blieb nur noch die – glücklicherweise gelungene – Flucht, und sie erlebte den 9. November 1989 als Hilfskraft in einem Darmstädter Restaurant, wo sie sich – neben verschiedenen anderen Jobs – das Geld für ein Zweitstudium verdiente. Später studierte sie Soziologie und Philosophie in Darmstadt und erntete verschiedene Auszeichnungen und Preise für ihr literarisches Werk. Heute lehrt sie „Verskunst“ an der Schauspielschule „Ernst Busch“.

Gerade die letztere Tätigkeit ist wichtig für das Verständnis des vorliegenden Buches, denn der literarische – um nicht zu sagen: poetische – Charakter ist unverkennbar. Inhaltlich handelt es sich eindeutig um ein Sachbuch, denn Ines Geipel verzichtet auf jegliche Fiktionalität. Hier geht es nicht um einen subjektiven Roman, sondern um die Deutung einer Situation anhand ganz realer Fakten und Personen. Gegenstand ist die Abkopplung der „neuen“ Bundesländer vom Westen, die Schaffung und Pflege des eigenen Opferstatus und die Verschiebung der Schuld an der gefühlten Diskriminierung nach Westen.

Sachbücher sind üblicherweise horizontal organisiert, indem sie über möglichst breite Umfragen und Literaturzitate Repräsentativität ihrer Aussagen erreichen. Literatur dagegen befasst sich intensiv mit Denken, Fühlen und Handeln fiktiver Figuren und geht damit vertikal in die Tiefe. Hier ergibt sich die Repräsentativität dann aus der Glaubwürdigkeit der Darstellung, unterliegt jedoch keiner wissenschaftlichen Bewertung.

Ines Geipel verbindet den faktenorientierten Sachbuchansatz mit der literarischen Technik des vertikalen Abstiegs in das Subjekt, um aus den Lebensläufen einzelner Personen letztlich die Entwicklung einer ganzen Gesellschaft zu diagnostizieren. Zwar erwähnt sie nebenbei auch einschlägige Fachliteratur und Umfragen, aber der Schwerpunkt liegt auf den exemplarischen Lebensbedingungen einzelner Menschen bis hin zu ihrer eigenen Familie.

Bei letzterer kennt sie auch kein familiäres Tabu und geht dabei bis an den Beginn des letzten Jahrhunderts zurück. Um die Folgen der unverarbeiteten Doppeldiktatur 1933-1989 der DDR-Bürger zu zeigen, entlarvt sie ihren Großvater als überzeugten Nazi und lässt ihre eigene Großmutter Hitler als „Mann mit Glanz“ bewundern. Das steigert sie noch durch die detaillierte Lebensgeschichte ihres Vaters, der in den achtziger Jahren als Stasi-Mitarbeiter die Bundesrepublik mit gefälschten Papieren zu Spionagezwecken bereiste, offiziell jedoch auf internen Schulungen weilte. Ihre Mutter war eingeweiht, verlor aber kein Wort. Aus diesem (Dauer-)Schweigen entwickelt Ines Geipel die Theorie eines seelischen „Bunker“-Traumas, das sich in der DDR-Bevölkerung ausgebreitet habe. Eine Verarbeitung der Nazi-Zeit gab es in der „per definitionem“ antifaschistischen DDR nicht, und die Aufarbeitung der DDR-Zeit fiel aus den verschiedensten – politischen – Gründen auch nur sehr knapp aus, was die Autorin anhand einiger Zahlen belegt. So wurde etwa die Hälfte der MfS-Mitarbeiter in gesamtdeutsche Institutionen übernommen, und Ines Geipel vermutet mit einigem Recht, dass diese in der Stasi sozialisierten Kader sich nicht zu treuen Demokraten gewandelt haben. Für sie müssen die ehemaligen DDR-Bürger mit der Last auch dieser Diktatur leben, da sie – im Gegensatz zu wenn auch späten Nazi-Aufarbeitung im Westen – öffentlich so gut wie nicht aufgearbeitet wurde. Im Osten aus Verdrängungsangst, im Westen aus paternalistischer Nachsicht. Hinsichtlich der Auswirkungen – auch bei den Tätern! – bemüht sie verschiedene psychologische und psychoanalytische Arbeiten zum Thema verdrängter Schuld, aber auch verdrängten Leids.

Diese Verdrängung ist für Ines Geipel einer der wesentlichsten Gründe für den Zorn des Ostens, der das kurze Glück von 1989/90 bald abgelöst hatte, als das – von Kohl – schnell versprochene Paradies sich in demütigende Arbeitslosigkeit verwandelte. Doch sie versteht sich dabei nicht als pragmatische Politikerin, die gleich mit „ad hoc“-Maßnahmen aufwartet, sondern sie weiß, wie schwer, ja beinahe unmöglich es ist, diese „Bunkermentalität“ aufzubrechen, wird doch jede gut gemeinte Hilfe schnell als westliche Arroganz und Besserwisserei abgelehnt. Auch hat sie – ähnlich wie Steffen Mau – erkannt, dass sich die Ostdeutschen in ihrer Opferidentität gut eingerichtet haben und gar nicht erlöst werden wollen. Denn – und das kennt man von anderen Opfergruppen – wer den Opferstatus freiwillig aufgibt, ist fortan selbst für sich verantwortlich und kann die Schuld für Misserfolge nicht mehr anderen anlasten.

Dieses Einspinnen in die eigene Opferidentität betrifft nicht nur die Generation der „Kriegskinder“ und der DDR-Bürger, sondern auch deren Kinder, da die Traumata der Eltern nach heutigen Erkenntnissen unbewusst auf die Kinder übertragen werden. Damit hat sich auch die Vorstellung einer schnellen Assimilation der jungen Generation an die westliche Demokratie als Wunschdenken erwiesen.

Das Buch erinnert nicht nur hinsichtlich der gewählten individuellen Beispiele an Literatur, sondern vor allem durch den Stil, der so gar nicht an ein Sachbuch erinnert. Immer wieder unterbricht die Autorin einen Gedankengang durch kurze innere Monologe, die keine logischen Schlussfolgerungen enthalten, sondern spontane Gedanken, Ideen und Erinnerungen zum Ausdruck bringen. Gerade die in diesen kurzen Abschweifungen zum Ausdruck gebrachte Unsicherheit über die komplexen Zusammenhänge lässt die Fehlbarkeit jeglicher Interpretation aus zeitgenössischer Perspektive offenbar werden und verleiht dem Buch den sympathischen Charakter der Ehrlichkeit. Auch die anfangs ungewohnte Eigenart, sich in elliptischen Sätzen von nur zwei, drei Substantiven zu äußern, zeigt das Vage aller Deutung.

Ines Geipel nimmt mit diesem literarischen, relativierenden Schreibstil eine Position ein, in der sie zwar die Brisanz der Lage im Osten der Republik erkennt und analysiert, doch nie den Anspruch einer faktisch belegten Hypothese stellt. Das ist vielleicht das Ehrlichste, was man in dieser Situation tun kann, denn der vermeintlich wissenschaftlichen Erkenntnisse sind nun genug gewechselt.

Das Buch ist im Verlag S. Fischer erschienen, umfasst 309 Seiten und kostet 26 Euro.

Frank Raudszus

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