Jens Balzer, von dem wir hier bereits „Ethik der Appropriation“ („kulturelle Aneignung“) besprochen haben, widmet sich in seinem neuen Essay dem vermeintlichen Ende der „Wokeness“-Bewegung. Ausgangspunkt ist der Terrorakt der Hamas am 7. Oktober 2023, der bei der „woken“ Linken entweder Schweigen oder sogar Beifall für den „Befreiungsakt“ der Palästinenser auslöste. Balzer bezieht hier vom ersten Satz an Stellung für einen Universalismus, der – getreu seinem Namen – für alle gilt, also für Israel genauso wie für Palästina. Für ihn hat sich die „woke“ Linke damit ethisch-moralisch vom gesellschaftlichen Konsens verabschiedet und endgültig disqualifiziert. Die internen Macht- und Definitionskämpfe der Linken zum 7. Oktober führen für ihn letztlich zu einer Selbst-Marginalisierung der Linken. Ob das so eintreten wird, bleibt abzuwarten, denn mit dem islamischen Kulturraum verfügt die -westliche – Linke über einen bedeutenden Resonanzraum, den sie immer wieder aktivieren kann.
In seiner deutlichen Absage an das Verhalten der „woken Linken“ – Balzer benutzt diese Wortverbindung selbst durchgehend, wohl, um sie von einer traditionellen Linken zu unterscheiden – geht Balzer aber nicht soweit, „Wokeness“ selbst in Frage zu stellen. Mit einigem Aufwand skizziert er die Anfänge der „Wokeness“ und verdeutlicht, dass „stay woke“ als Mahnung der schwarzen Minderheit in den USA eigentlich die Aufforderung darstellte, „wachsam“ gegenüber weiteren – verbalen und tätlichen – Übergriffen zu sein. Aus diesen „Wachsam“ wurde dann ein erweitertes „Achtsam“, das überall rassistische (Mikro-)Aggressionen witterte. Balzer schildert dann den Weg der „Wokeness“ von dieser Wachsamkeit zu einer Ideologie, die sich schnell verselbständigte und ins allgemein Moralische wanderte. Unter der Wortführerschaft von Judith Butler entstanden dann Begriffe wie „White Supremacy“ und schließlich „Critical Whiteness“, wobei letztere behauptet, jeder Weiße sei per Geburt – quasi genetisch – rassistisch und könne dies nicht argumentativ abweisen, sondern nur reumütig akzeptieren, jedoch ohne Garantie der Absolution. Und Balzer bringt klar zum Ausdruck, dass die „links-woke“ PoC-Gemeinschaft schon aus prinzipiellen Gründern der Deutungshoheit und Definitionsmacht diese Absolution nie erteilen wird. Für ihn hat sich diese Linke längst zu einer Wahrheitsinstitution mit der alleinigen Verfügung über „gut“ und „böse“, „richtig“ und falsch“ gewandelt, und jeder externe Kritiker ist damit automatisch ein Rassist und/oder Faschist.
Im Zusammenhang mit dem Hamas-Terror weist Balzer auf einen wesentlichen Widerspruch der „woken“ Linken hin: ihrer Ideologie zufolge sei die jüdische Identität eine der Diaspora, also verstreut ohne eine zusammenhängende Gemeinschaft. Die Identität einer jüdischen Nationalität und der dazugehörige Staat sei damit grundsätzlich und auch ethisch falsch. Zu Recht fragt Balzer, warum dieselben Linken dann eine nationale – und natürliche staatliche – Identität für die Palästinenser einfordern. Das und die Ausfälle gegen Israel als repressive Kolonialmacht gegenüber dem „indigenen“ Opfervolk der Palästinenser sieht er zu Recht als Zeichen eines tief sitzenden Antisemitismus der Linken.
Doch gleichzeitig warnt Balzer davor, nun wie die Konservativen und Rechten das Ende jeglicher „Wokeness“ zu bejubeln. Etwas zu deutlich möchte er sich vom Beifall der falschen Seite absetzen. Dabei wirkt der Ausflug in die – durchaus berechtigte – Beschimpfung der Rechten so, als wolle Balzer seine eigene Zugehörigkeit zur avantgardistischen Linken nicht aufs Spiel setzen, wenn er plötzlich den vermeintlichen Rechten Standpunkte unterstellt, die eigentlich eher extrem links zu verorten sind.
Doch das sind Petitessen, denn Balzer wagt es auch, den islamistischen Terror sowie das islamische Menschen- und Frauenbild als das zu bezeichnen, was sie sind, während die „woke“ Linke das eine gerne als Befreiungskampf und das andere als authentische Kultur verbrämt. Auch hier kündigt Balzer, den man bisher durchaus als – vielleicht reflektierteren – Vertreter der Linken betrachten konnte, seine Zugehörigkeit zu dieser Bewegung und wird damit wohl den einen oder anderen Shitstorm ernten.
Bei aller Abgrenzung und Verurteilung schält sich jedoch heraus, dass Balzer selbst weiterhin die identitären Vorstellungen und die Gender-Dekonstruktion der Linken teilt. Vor allem die nicht-binäre Gender-Fluidität verteidigt er, zwar nicht plakativ-kämpferisch, aber unverkennbar, gegen alle evidenzbasierten Erkenntnisse der Naturwissenschaften, hier der Biologie. Obwohl er sich über Naturwissenschaften nicht explizit auslässt, führt das zu dem Schluss, dass er diese Sparten eines reaktionären Positivismus verdächtigt. Diese Haltung schlägt sich auch in seinem extensiven Gendern nieder, das Wortmonster wie „der*die Philosoph*in Judith Butler“ erschafft und die Leser*Innen nervt.
Das Buch ist im Verlag Matthes & Seitz erschienen, umfasst 105 Seiten und kostet 12 Euro.
Frank Raudszus
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