Das 7. Sinfoniekonzert des Staatstheaters führte in einem spannungsreichen Programm die Aufbruchstimmung der Haydnschen Klassik mit der Melancholie eines Sibelius und Delius zusammen. Als Gastdirigent wirkte der junge Marcus Merkel, seines Zeichens Chefdirigent in Koblenz, und als Solist hatte man den Bariton und renommierten Opernsänger Oliver Zwarg gewinnen können.
Das Programm begann mit dem einsätzigen Stück „Dreydl für Orchester“ der zeitgenössischen multimedialen Künstlerin Olga Neuwirth aus dem Jahr 2022. Diese Komposition erinnert mit zunehmender Dauer immer stärker an Ravels „Boléro“. Wie dieser beginnt er ganz leise, aber zuerst mit Pizzicati in den Celli, dann folgen eine helle Trommel mit einem durchlaufenden Muster, verhalten die Bratschen, ein einsames Blasinstrument – wie bei Ravel! – und sogar eine kleine Orgel. Aus dem leisen Beginn entwickelt sich eine sich steigernde Folge ostinater Figuren mit zunehmender Fülle und Dynamik, die in ein mächtiges Crescendo mündet und dann wieder zu einem neuen, verhaltenen Beginn absinkt. Diese Folge wiederholt sich mehrere Male, jedesmal mit anderer Instrumentierung, wozu auch Glissandi und andere Geräuscheffekte gehören, die einen sich schnell drehenden Kreisel simulieren sollen. Denn „Dreydl“ bedeutet im Jiddischen „Kreisel“, und die Komponistin hat in diesem Stück ein jiddisches Kindergedicht von Mordechaj Gebirtig vertont. Das Orchester konnte gleich zu Beginn des Abends sein ganzes klangliches Können unter Beweis stellen und tat dies mit beeindruckender Souveränität.
Anschließend sprang die Programmuhr um gut 150 Jahre zurück zu den „Londoner Sinfonien“ von Joseph Haydn, von denen die Nummer 94 „mit dem Paukenschlag“ wohl die bekannteste ist, weil Haydn hier im Andante-Satz die erste Wiederholung des Themas immer leiser werden ließ, bevor er mit einem harten Paukenschlag die vor sich hindämmernden Zuhörer weckte – so die Anekdote. Marcus Merkel achtete von vornherein darauf, den aufklärerischen Aspekt der Klassik von „H-M-B“ zu betonen. Nach dem langsamen Beginn gewinnt bereits der erste Satz schnell Tempo und Schwung und versendet damit eine Aufbruchsbotschaft. Der zweite Satz lebt – neben dem Paukenschlag – von der Vielfalt der Variationen des auf und ab führenden Themas, wobei die markante Ausarbeitung der Kontraste beeindruckte. Das Menuett des dritten Satzes kam – ganz im Sinne des Aufbruchs – fast wie ein Beethoven-Scherzo daher, und der sich „attacca“ anschließende Finalsatz setzte dies auf jubelnde Weise fort. Bei allem Vorwärtsdrang konnte man jedoch an dieser Sinfonie nachvollziehen, wie stark Haydn noch – anders als Mozart und Beethoven – einer gleichbleibenden Metrik verhaftet war und auf Fermaten und starke Rubati verzichtete. Er war halt der erste nach Bach.
Nach der Pause wurde es dann melancholisch. Jean Sibelius´ „Okeaniden“ schwelgen in Natureindrücken, wobei nicht nur der Name auf die See hinweist. Immer wieder erzeugen lang gezogene Bögen den Eindruck der Weite (der See) und der Überwältigung des menschlichen Geistes durch die unfassbare Größe der Natur. Die Sehnsucht nach Einheit mit dieser Naturwelt lässt sich dabei am besten mit der Klarinette zum Ausdruck bringen. Dann hebt ein metaphorischer Sturm an, der die Wellen hochpeitscht, bis sich die Brandung bricht und an einem ebenso metaphorischen Strand langsam verläuft. Bemerkenswert jedoch, dass diese spätromantische Musik zu einer Zeit entstand, als Strawinsky mit dem „Sacre du Printemps“ das Pariser Publikum aus dem Saal jagte.
Das letzte Stück des Abends, Frederick Delius´“Sea Drift“, setzt diese melancholische Pose fort und verstärkt sie sogar noch. Das Stück entstand 1903/04 und vertont einen Text des US-amerikanischen Autors Walt Whitmann. Darin geht es um einen kleinen Jungen, der ein brütendes Möwenpaar beobachtet. Als eines Tages das Weibchen – „she-bird“ – fehlt, ruft das Männchen über Tage und Nächte nach ihr, ohne je eine Antwort zu erhalten, und der kleine Junge leidet mit ihm. Oliver Zwarg sang den Text im Zusammenspiel mit dem Opernchor des Staatstheaters, der wie in der griechischen Antike die Empfindungen des Jungen kommentierte. Die Musik besteht aus lang gezogenen Melodiebögen ohne markante Motive und soll die emotionale Befindlichkeit des Jungen und der von ihm beobachteten klagenden Möwe wiedergeben. Hier breitet sich eine durchlaufende, „fließende“ musikalische Darstellung eines emotionalen Ausnahmezustandes aus, die keine Brüche, aber auch keinen Aufbruch kennt. Nur der tragische Augenblick und sein Stillstand zählen. Orchester, Chor und Solist „groovten“ sich förmlich in diese lyrische Abschiedsstimmung hinein, um einen Ausdruck aus dem Jazz zu verwenden. Durch die enge Verschränkung der drei musikalischen Quellen entstand ein sich ständig intensivierendes Klangbild, dem man sich als Zuhörer nicht entziehen konnte. Man wurde förmlich in diese Welt des Abschieds und der Einsamkeit hineingesogen.
Und so dauerte es nach dem letzten Ton auch einige Sekunden, bis das Publikum aus dieser jenseitigen Welt zurückfand in den Konzertsaal und allen Beteiligten kräftigen, anhaltenden Beifall spendete.
Frank Raudszus
No comments yet.