Die 1943 in New York geborene amerikanische Lyrikerin Louise Glück war bei uns fast unbekannt, bis sie 2020 den Nobelpreis für Literatur erhielt. Damals erschienen auch in Deutschland mehrere ihrer Gedichtbände. Ihre Lyrik zeichnet sich durch eigenwillige Form und sehr verdichtete Metaphorik aus. Viele ihrer Gedichte sind Erzählgedichte, jedoch anders als die uns bekannten Balladen nicht auf eine dramatische Handlung bezogen, vielmehr sind sie Ausdruck existenzieller Lebenssituationen. Es gibt nur wenige Prosatexte von ihr. Umso überraschender war es, als sie 2022 die kleine Erzählung „Marigold and Rose“ veröffentlichte. Auf Deutsch liegt dieser Text erst jetzt 2024 vor. Louise Glück starb 2023.
„Marigold und Rose“ erzählt von der Erfahrungswelt der Zwillinge Marigold und Rose, wie sie von Anfang an ihre Unterschiedlichkeit erleben, sich zusammengehörig fühlen und dennoch jede als einzelnes Wesen. Es dauert etwas, bis ich als Leserin verstehe, wer hier eigentlich erzählt. Es sind die beiden Kinder selbst. Louise Glück stellt sich vor, wie die Kinder im Mutterleib und dann als Neugeborene ihr erstes Lebensjahr beschreiben würden, wenn es denn ginge. Hier liegt die utopische Dimension des Textes: Was wäre, wenn sich schon die gerade gezeugten kleinen Wesen artikulieren und mitteilen könnten? Oder können sie es eigentlich, nur wir Erwachsenen können ihre Sprache nicht verstehen?
Louise Glück nimmt die kleinen Wesen ganz ernst, lässt sie sich selbst wahrnehmen, aber auch die jeweilige Zwillingsschwester. Sie verstehen sich gegenseitig und wissen um ihre jeweiligen Stärken und Schwächen. Marigold ist die Introvertierte, auf Bücher fixierte. Rose dagegen ist die extrovertierte Niedliche, die die Aufmerksamkeit der Umwelt von Anfang an auf sich zieht. Aber sie weiß, dass sie im Gegensatz zur Schwester keine Tiefe hat. Die Kinder nehmen auch die unterschiedlichen Reaktionen ihrer Eltern genau wahr, insbesondere das, was an Äußerungen der Eltern verwirrend ist.
Die Kinder erobern ihre Umwelt erst mit Krabbeln, dann mit Treppen-Erklimmen, mit Sich-Aufrichten und schließlich mit dem beginnenden Spracherwerb. Die Geschichte endet mit dem ersten Geburtstag der Kinder.
Die kleine Erzählung stellt mit der eigentlich unmöglichen Erzählperspektive unsere Sicht auf die Entstehung des Lebens und die Entwicklung der Kinder auf den Kopf. Louise Glück lässt die Weisheit, die aus Säuglingsgesichtern strahlt, buchstäblich zu Worte kommen. Wir kennen das alle: Schon die ganz Kleinen wissen genau, was sie brauchen, was ihnen Behagen und was ihnen Unbehagen bereitet, darin liegt ihre Weisheit. Die Erwachsenen müssten nur besser hinhören, um deren Sprache ohne Worte zu verstehen.
Aber Louise Glück geht es nicht nur um das bessere Verständnis für die Sprache der ganz Kleinen. Vielmehr sieht sie die Kinder nicht nur als durch die Umwelt Gewordene, sondern als von Anfang an eigenständige Wesen mit einem je individuellen Charakter, der nicht von außen geformt erscheint. Wer Kinder aus der Nähe erlebt, wird darüber so manches Mal in der Tat erstaunen. Es ist die alte Frage der Pädagogik nach dem Verhältnis von „nature and nurture“.
Louise Glück erzählt in glasklarer Sprache, die an die sprachliche Disziplin ihrer lyrischen Texte erinnert. Es ist ein großes Vergnügen, sich in dieses kleine sprachliche Juwel hineinzuversetzen. Die Lektüre benötigt nur eine gute Stunde, aber der Gewinn ist größer als bei so manchem großen Roman.
Also, liebe Leserinnen und Leser, nehmen Sie sich ein Stündchen Zeit für Louise Glück, vielleicht dann noch ein paar Stündchen für ihre Lyrik. Es wird Sie beglücken.
Das Buch ist 2024 in der Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Eva Bonné im Luchterhand Literaturverlag erschienen. Es hat 64 Seiten und kostet 18 Euro.
Elke Trost
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