„Glue light blue“ lautet der Titel der neuen Produktion des Hessischen Staatsballetts, die im April in Darmstadt Premiere feierte, und das bedeutet in etwa „himmelblauer Klebstoff“. Dieses Haushaltsmittel hilft dabei, Dinge zusammenzuhalten, und das sind in dieser Choreographie die Menschen. Die Farbe Blau weckt spontan die Assoziation eines freundlichen Himmels, entweder nur im meteorologischen Heiterkeitssinn oder in religiöser Ehrfurcht. Nadav Zelner, der Choreograph von „glue light blue“, ist Israeli, ebenso wie Eran Atzmon und Maor Zabar, die in dieser Produktion für Bühne und Kostüme zuständig sind.
Die Musik jedoch stammt aus einem viel weiteren Kreis, nämlich aus dem arabisch-muslimischen rund um Israel. Das kann man als ersten Schritt einer künstlerischen und damit (vor-)politischen Öffnung verstehen, was besonders in diesen Tagen bemerkenswert ist. Nun gibt es auch typisch israelische – oder jüdische – Musik, doch diese hört man hier nicht, und auch die Namen der Musiker und ihrer Ensembles verweisen eindeutig auf den arabischen Raum, etwa Kairo oder Beirut.
Aus diesen Gründen kann man „glue light blue“ guten Gewissens als einen orientalischen Basar deuten, denn jeder weiß, dass in einem solchen Basar die Kommunikation an erster Stelle steht. Nicht nur preisen die Verkäufer lautstark ihre Waren an, sondern sie versuchen auch, mit den Kunden und untereinander ins Gespräch zu kommen und über „Gott und die Welt“ zu reden.
Diese Kommunikation zwischen den Menschen steht im Mittelpunkt von Nadav Zelners Choreographie, und diese zeigt durchaus Züge eines Basars. Doch nicht etwa mit folkloristischem oder gar kitschigem Einschlag, sondern nur bezüglich der Mentalität des Austauschs von Gedanken, Wünschen und – ja: auch – Ängsten.
Eran Atzmon hat dafür eine eindrucksvolle Bühnenlandschaft mit symbolischen, aber nie aufdringlichen Elementen geschaffen. Eine wie mit Farbresten einer Baustelle übersäte Stahlwand von knapp zwei Metern Höhe zieht sich U-förmig um die Bühne und hebt oder senkt sich von Zeit zu Zeit mit den Bewegungen der Tanzgruppen. Dazu schwebt ein wahres Feld echt aussehender Felsbrocken von handlicher Größe an langen Seilen am schwarzen – nicht „light blue“! – Bühnenhimmel, mal am Boden, mal in geringer, mal in größerer Höhe. Die Tänzer müssen sich also dieser räumlichen Störung bewusst sein und sie in ihre Bewegungen einbeziehen. Voreilige (gesellschafts)politische Deutungen dieses Bühnenbilds sollte man tunlichst vermeiden, denn sie sind offenbar nicht beabsichtigt und wenn, dann nur auf sehr indirekte Weise.
Ähnliches gilt für die Kostüme, bei denen nur eines hervorsticht: die hellblaue Farbe, die sich im Laufe der einstündigen Aufführung in Gestalt körpernaher Unisex-Anzüge im Badeanzug-Stil durchsetzt. Ansonsten tragen die Tänzer und einige Tänzerinnen vorwiegend haarfreie Kopfbedeckungen mit Bemalungen und einige Tänzerinnen freie Haare.
Zu Beginn stehen jedoch noch archaische Kostüme im Vordergrund. Als wolle man – wie Stanley Kubrick – auf die Entstehung der Menschheit und ihre ersten Figuren verweisen, betritt ein einzelner Priester, mit bemaltem Kopf und im groben, bis zu den Füßen reichenden Gewand die von den Steinen – Steinzeit! – gefüllte Bühne und bietet dem Publikum Grimassen und Laute dar. Es folgen weitere Figuren derselben Art, die einsam und gravitätisch – ohne Kommunikation! – wie Aliens aus einem SF-Film durch die Steinreihen gleiten. Dazu tönt aus den Lautsprechern ein unterirdisches Grummeln, das auf die Entstehung der Welt zurückverweist.
Doch dann belebt sich die Szene; die Kostüme werden langsam freier, und die Menschen strömen in kleineren und größeren Gruppen auf die Bühne. Jetzt laufen all die Szenen in pantomimischer Art ab, die man sich in einer Basar-Gesellschaft vorstellt. Man trifft sich, mag sich, streitet sich, trennt sich und kommt wieder zusammen. Das zeigt die Tanzgruppe des Staatsballetts in allen Facetten und Kombinationen. Dabei steht nicht der (neo)-klassische Tanz mit den bekannten Akrobatikfiguren im Mittelpunkt, sondern eher die Pantomime. Manche der Alltagsbewegungen, natürlich abstrahiert bzw. aufs Wesentliche verkürzt, erinnern an William Forsythe, der auch das eigentliche Tanzen zugunsten der Pantomime aufgab. Dabei darf Pantomime nicht als Harlekintum missverstanden werden, obwohl auch das bisweilen bewusst vorkommt, sondern als mal überspitzte, mal verzerrte, mal verfeinerte Darstellung der kommunikativen Handlungen zwischen Menschen. Darunter fällt auch der Einzelauftritt, eben als das sehnsuchtsvolle Fehlen von Kommunikation.
Entscheidend für die Wirkung dieser Choreographie ist auch der Versuch, die Pantomime durch den Einsatz von Mimik und Stimme zu verstärken, was sowohl beim klassischen Ballett als auch beim Tanztheater nicht üblich war/ist, da man sich vom Schauspiel absetzen will. Hier jedoch grimassieren die Tanzenden je nach Situation einzeln, im Duett oder in der Gruppe mal fröhlich, mal neckisch, mal empört oder erschrocken, und in ausgewählten Situationen kommt auch die Stimme in verschiedenen Ausprägungen zu Wort. Letzteres ertönt jedoch nicht im semantischen Sinne, denn gesprochen wird hier nur mit den Körpern und dem Gesicht, nicht mit Worten. Das bleibt noch dem Schauspiel vorbehalten.
Hoffnungsvoll stimmt in „glue light blue“ der Humor, der sich trotz der Situation gerade im heimatlichen Umfeld der israelischen Choreographengruppe durch das gesamte Stück zieht. Grimassen sind nie vom Schrecken oder gar von Bösartigkeit geprägt, sondern haben stets eine witzige Seite, und auch die Bewegungen lassen den Wunsch nach Gemeinschaft und Verständnis erkennen. Dazu erklingt über weite Strecken typische arabische Musik, die ebenfalls Lebensfreude ausstrahlt. Wenn am Ende dann eine einzelne Tänzerin die unschuldig auf dem Boden liegenden Steine – wie immer man diese deutet – abschreitet und mit ihnen spricht, drängen sich zwar entsprechende Assoziationen auf, doch die kommen halt und sind nicht von einer platten Symbolik aufgepropft.
Die Pointe am Schluss lässt dann eine Vielzahl optimistischer oder pessimistischer Deutungen zu.
Das Publikum bedachte diese gelungene Choreographie mit begeistertem und lang anhaltendem Beifall.
Frank Raudszus
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