Daniel Kehlmann, dessen letzten Roman „Lichtspiel“ wir kürzlich vorgestellt haben, hat ursprünglich Philosophie studiert und sogar eine Dissertation über das „Erhabene“ bei Kant begonnen, die er jedoch wegen seines beginnenden Erfolgs als Schriftsteller nie fertiggestellt hat. Im letzten Jahr hat er das hier ebenfalls besprochene Buch „Radikaler Universalismus“ des israelischen Philosophen Omri Boehm gelesen und war so beeindruckt, dass er den Autor um ein Gespräch darüber bat. Der professionell überarbeitete Mitschnitt dieses Gesprächs aus dem letzten Jahr ist in diesem Buch festgehalten worden.
Das Buch ist für philosophisch nicht geschulte Leser aus zwei Gründen schwer zu lesen. Zum Einen steigen hier zwei Experten aufgrund – ja: fast hingeworfener – Stichworte umstandslos in eine tief schürfende Diskussion über philosophische Begriffe und Denksystem, ohne diese erst systematisch für ein breites Publikum herzuleiten. Der Leser fühlt sich damit in einen Strudel kalten Wassers geworfen und muss sich den jeweiligen Hintergrund erst mühsam erarbeiten. Zum Anderen liefert die Diskussion natürlich permanent Anlässe zu durchaus nachvollziehbaren Abschweifungen, die der Gegenüber aus naheliegenden – guten – Gründen nicht abwehrt, sondern spontan aufnimmt. Schließlich handelt es sich hier nicht um ein Proseminar über Philosophie, sondern um ein Gespräch über Kants philosophische Sicht der Welt.
Das „Insider-Tum“ beginnt bereits beim Titel. Wer weiß schon, dass er einem Satz aus Kants „Kritik der praktischen Vernunft“ entspricht. Man erfährt es dann bei der Lektüre, denn die beiden haben durchaus den Leser im Blick, allerdings nur sekundär. Primär ist die Diskussion über Kants drei große Kritiken über „die reine Vernunft“, „die praktische Vernunft“ und „die Urteilskraft“.
Das Gespräch ist in acht Kapitel strukturiert, die jedoch bewusst(?) keine thematischen Titel tragen, wohl, um den Eindruck einer vorgegebenen (Lehr-)Struktur zu vermeiden. Auch die Titel der jeweiligen Unterkapitel bestehen eher aus markanten Schlagworten denn aus thematischen Hinweisen.
Die komplexe Intensität – oder intensive Komplexität – dieses Gesprächs sei am Beispiel des ersten Kapitels veranschaulicht. Hier geht es vordergründig um die Person „Kant“, doch dieses Thema weitet sich schnell aus. Beide betonen den messerscharfen Denker, der gewohnte Denkmechanismen buchstäblich ad absurdum führte und damit viele seiner Zeitgenossen gegen sich aufbrachte. Einerseits hielt er jegliche Revolution gegen die (Rechts-)Staatlichkeit für illegal, andererseits begrüßte er die französische Revolution mit Tränen der Freude. Was ihm den meisten Widerstand, wenn nicht Feindschaft einbrachte, war die Widerlegung aller drei angeblich logisch schlüssigen Gottesbeweise. Dass er dennoch dem Glauben ein Existenzrecht einräumte und vielleicht selbst gläubig war, empfanden viele seiner Kritiker als widersprüchlich und reagierten – etwa Heine – mit ätzendem Spott. Niemand verstand, dass er einen logisch bewiesenen Gott nicht für „göttlich“ halten konnte, da die Menschen damit in gewisser Weise zum Glauben gezwungen waren.
Durch alle Diskussionen zieht sich auch der Gegensatz zwischen Natur und Freiheit. Der Mensch, für den „Vor-Darwinisten“ Kant ein freies, zum Denken befähigtes Wesen ober- und außerhalb der Tierwelt, muss jede Entscheidung aus eigener Freiheit tätigen. Damit sind logisch-wissenschaftlich bewiesene Thesen nicht mehr frei entscheidbar, der Mensch würde zum ausführenden Organ einer externen Autorität, sei es ein Gott oder die moderne Wissenschaft. Die beiden Diskutanten führen dabei immer wieder Spinoza und Nietzsche ins Feld, die – jeder auf seine Weise – den Menschen als ein den Zwängen der Natur unterworfenes Wesen ohne wirklich eigene Einflussmöglichkeiten sehen. Spinoza schuf so – ungewollt? – den Begriff des Nihilismus, und Nietzsche sehen die beiden Diskutanten als Vertreter eines übersteigerten Machtbewusstseins. Für sie hat Nietzsche Kant nicht wirklich verstanden, sondern sieht in ihm nur den willkommenen Henker Gottes.
Weiter geht es zum Begriff der Erhabenheit, die der Mensch laut Böhm nicht als Teilnehmer sondern nur als Betrachter erkennen kann, wobei ein Nebenstrang der Diskussion das Erhabene bei Kant von der (Lebens-)Angst Heideggers unterscheidet. Die Diskussion darüber, was der Mensch denn sei, gipfelt in der Feststellung, dass der Mensch nicht der Natur, sondern der letztlich „unendlichen“ Moral unterworfen sei, wobei diese Moral nicht im Sinne religiöser Dogmen misszuverstehen sei.
Kants Unterscheidung des Indefiniten vom Infiniten stellt ein weiteres Thema dar, wobei Ersteres als lediglich nicht Vollständiges zu denken sei, während Letzteres die wahre, gedanklich nicht fassbare Unendlichkeit der Welt darstelle. Diese Unendlichkeit sei dann wiederum gleichbedeutend mit der Freiheit, die dem Menschen für sein Handeln zur Verfügung stehe und die es in voller Verantwortung zu nutzen gelte.
Das Wissen unterscheidet Boehm – wie Kant – eindeutig vom Denken. Das erste archiviert und verleiht vermeintliche Sicherheit, das zweite stellt alles in Frage. Deshalb sei der Ausspruch „Sapere aude!“ zwiespältig, weil der das Wissen betont. Es müsse aber eigentlich heißen „Wage (selbst) zu denken!“. Deutlich arbeiten die beiden heraus, dass die Aufklärung, als Protest gegen die Dogmen des Glaubens entstanden, selbst zu einem Dogma werden kann, wenn Logik als einziger Maßstab herangezogen werde. Daher auch die zentrale Position des Kategorischen Imperativs, der sich aus der letztlich nicht „beweisbaren“ Freiheit des menschlichen Geistes ergebe.
Gegen Ende dieses Kapitels behandeln die beiden Gesprächspartner noch das berühmte Kant´sche „als ob“. Kant war sich im Klaren darüber, dass seine hohen moralischen Anforderungen an den Menschen, verdichtet im „kategorischen Imperativ“, von realen Menschen kaum zu erfüllen seien. Man müsse sein Handelns jedoch immer so ausrichten, „als ob“ es möglich sei. Unter anderem auch so agieren, „als ob“ es den von ihm quasi widerlegten Gott gebe.
Auf diesem hohen philosophischen Niveau debattieren die beiden in weiteren sieben Kapiteln noch viele andere Themen aus Kants Werk, unter anderem das „Schöne“ und die Kunst, die Frage, ob man lügen dürfe, die quasi-metaphysische Dogmatik moderner Wissenschaft oder die sogenannten Kantischen Antinomien. Dabei werden immer wieder Kants Vorgänger, Zeitgenossen und Nachfolger zu Rate gezogen oder als Ideengeber bzw. Antipoden zitiert. Nach Platon, Aristoteles und Augustinus (nur randständig) kommen Hume, Hobbes, Leibniz, Hegel, Schelling, Nietzsche und Heidegger zu Wort, um nur einige zu nennen.
Auch die neuerlich hochgekommenen Vorwürfe wegen rassistischer Äußerungen greifen die beiden auf und räumen ihnen einen hohen Stellenwert ein. Dabei erliegen sie nicht der Versuchung, die wertenden Rassenbetrachtungen in der späten Anthropologie als Zeitgeist einer verflossenen Epoche zu marginalisieren oder gar in Vorwürfe gegen besserwissende Nachgeborene umzumünzen. Gerade Kants Beschwörungen der Gleichheit aller Menschen passen nicht zu diesen mehr als peinlichen Ausrutschern. Eine beginnende Senilität wird erwähnt, aber nicht als Entschuldigung gewertet; diese Frage bleibt als offene Wunde ohne beruhigende Klärung bis zum Schluss offen. Allerdings betonen beiden, dass diese mehr als problematischen Äußerungen deshalb nicht das Gesamtwerk Kants schmälern. Jeder hat sozusagen das Recht auf – auch schwerwiegende – Irrtümer, ohne dass diese das Gesamtgerüst zum Einsturz bringen müssen.
Es ist an dieser Stelle nicht der Ort, das gesamte, sich über acht Teile erstreckende Gespräch zu kommentieren. Hier ist nur festzuhalten, dass die Diskussion bis zum Schluss auf einem hohen intellektuellen und philosophischen Niveau verläuft und vom Leser höchste Aufmerksamkeit und – ja! – einige Vorkenntnisse erfordert. Für philosophisch nicht geschulte Leser empfehlen wir die Lektüre von Marcus Willascheks Buch „Kant“, das eine gute Grundlage für den vorliegenden Diskussionsband liefert.
Das Buch ist im Propyläen-Verlag erschienen, umfasst 347 Seiten und kostet 26 Euro.
Frank Raudszus
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